Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt zu Aschermittwoch 2000 (Hebräerbrief)

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17. Februar 2000 -

Filmpredigt zu: Stanley Kubrick: "Eyes Wide Shut" (1999)

[Schnitzler, Arthur: Traumnovelle. Kubrick, Stanley und Raphael, Frederic: Eyes Wide Shut. Das Drehbuch. Aus dem Englischen von Frank Schaff. Frankfurt/Main (Fischer Taschenbuch Verlag) 1999]

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1. Die Augen weit geöffnet

  • Soll man über Schuld reden? Öffentlich oder privat: Ist es wirklich gut und sinnvoll, über Schuld zu reden?
    Über Ethik, natürlich über Ethik darf und soll man sprechen. Auch die Kirche versteht es als eine ihrer Aufgaben, über Ethik zu sprechen. Sie tut es gerade auch dann, wenn es nicht populär ist. Über Ethik zu sprechen ist wichtig, weil nur am Gespräch das individuelle Gewissen sich bilden kann. Aber das ist das Gespräch "davor". Damit ist nichts gesagt über das "Gespräch danach". Soll man über Schuld reden?
    "Selbstverständlich", könnte die Antwort sein, "man muss über alles reden können". Man dürfe doch nicht, so heißt das Gebot, etwas ins Unterbewusstsein abgleiten lassen, wo es nur schadet. "Heraus damit, zur Sprache damit, auf dass gesunden kann, was unheil ist". Nur was am Licht ist könne nach Maßgabe der Vernunft geordnet werden. Eine ganze Hauptrichtung der Psychologie hat sich diesem Grundsatz verschrieben, zutiefst der Aufklärung des Individuums über sich selbst verschrieben. Es ist aber kein Zufall, dass eben dieselbe Analyse der menschlichen Psyche letztlich keinen Zugang zum Begriff der Schuld hat, sondern alles nur erklärt, bestenfalls versteht. Hatte Marx das Individuum nicht ernst genommen, sondern aus den Produktivkräften erklärt, so hat Freud das Individuum letztlich genauso wenig ernst genommen, sondern nur erklärt.
    "Das sagst Du ja nur, weil..." ist die Formel, die wir von Marx und Freud in unser Alltagsdenken übernommen haben. Es ist die Formel, mit der wir erklärend entmündigen, statt ernst zu nehmen.
  • Wenn es aber Schuld gibt, wenn es die Erfahrung gibt, dass ich, unableitbar ich, schuldig geworden bin, in Gedanken, Worten und Werken, dann schweigt auch das Werk der aufklärenden Psychoanalyse. Somit hilft uns deren Antwort nicht weiter.
    Darf man über Schuld sprechen? Schon über Ethik zu sprechen ist riskant, weiß man doch nie, an welche verletzlichen Tiefen des anderen Menschen man in solch einem Gespräch rührt. Was ganz abstrakt gemeint war, kann von anderen zutiefst persönlich gehört werden, ohne dass ich es je erfahre. Aber selbst das ist noch etwas anderes als die Augen weit zu öffnen für die Schuld, für die geheimsten Abgründe meiner Seele, für die Träume, in denen sich der Bodensatz meines Lebens niederschlägt. Soll ich darüber sprechen? Soll ich offenbaren? Soll ein anderer, von mir verschiedener Mensch es hören? Soll Licht auf den Schatten fallen - nur um festzustellen, dass dieser Schatten dadurch nicht hell wird, sondern Schatten bleibt, vielleicht dunkler noch als zuvor?
  • An einem Beispiel gesagt, bei aller Gefahr, damit an allzu Konkretes zu rühren: Wenn jemand seine Frau betrogen hat: Soll er es ihr bekennen? Soll er der Partnerin sagen, wenn er sich an der gemeinsamen Ehe verfehlt hat, wenn er seine Frau - oder wenn sie ihren Mann - betrogen, Vertrauen missbraucht, Versprechen gebrochen hat?
    Er kann sich ja sagen: "Das ist Vergangenheit". Erlaubt es bereits seine tief empfundene Reue und aufrichtige Umkehr, "danach" darüber zu sprechen? Sollte der Ehebrecher nicht lieber sogar eine Versuchung, der er wie durch ein Wunder widerstanden hat, tief in das Geheimnis seiner Seele versenken, statt es zu offenbaren? Welche Ehe vermag die Belastung einer solchen Offenbarung zu tragen?
    Wenn das Alte Testament von Schuld spricht, sagt es: der Mensch muss seine Schuld tragen(1). Damit war die rechtliche Folge der Schuld, die Bestrafung durch die Gemeinschaft gemeint. Wie viel mehr trifft aber dieses Wort gerade auch auf diese Schuld zu, um die nur ich weiß: "Schuld tragen", ist ein schrecklich treffendes Wort.

2. Die Augen fest geschlossen

  • Die Erkenntnis von Gut und Böse bringt uns das Paradies nicht zurück. Sie hat uns von dort vertrieben. Daher sollten wir nicht zu leichtfertig von der Aufklärung über Schuld Heilung erwarten. Was da im Garten Eden passiert, ist ja kein Erkenntnisvorgang, sondern ein Vorgang des Willens. Aus der Perspektive des Paradieses bedeutet die Erkenntnis von Gut und Böse nämlich nichts anderes, als die Möglichkeit des Bösen überhaupt vor mich hintreten zu lassen. Allein das Zulassen des Gedankens, mich aus der Gemeinschaft mit Gott zu trennen, allein schon der spielerische Traum, die Reinheit und Einheit aufzubrechen, ist tödlich(2).
  • Von daher verstehe ich auch die soziale Seite der Sünde, die Erbsünde. Dort, wo bekannt wird, dass Sünde ist, breitet sie sich aus. Darüber reden heilt nicht, es baut im Herzen die erste Brücke zur anderen Seite des Grabens, der den Menschen von der Verleugnung seiner Gotteskindschaft trennt. Wo die Sünde in die Welt gekommen ist, gebiert sie ihre Kinder. Genauer noch: Wo die Sünde in der Welt sichtbar wird, wo ihr erlaubt wird, an die Oberfläche zu treten, dort breitet sie sich aus(3).
  • Es ist hart anzunehmen, dass diese Gesetzmäßigkeit selbst für die Ehe gilt. In dem Bereich, wo Menschen sich so nahe sind wie nirgends sonst, müßte es doch möglich sein, den Kreislauf zu durchbrechen. Hier wenigstens sollte Reinigung in der Wahrheit ihren Platz haben. Der Schöpfungsbericht schildert die Ehe - sicherlich einseitig aus Perspektive des Mannes - als Geschaffenwerden der Frau aus der Rippe des Menschen. Dies ist das Bild innigster Nähe. Deswegen ruft der Mensch auch jubelnd aus: "Das endlich ist Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch!" (Gen 2,23). Hier spricht nicht spontane Verliebtheit, sondern jene Liebe eines Menschen, der sein ganzes Leben mit einer anderen teilt. Aber selbst diese Liebe ist gefährdet durch das Sprechen über die Schuld. Wo die Sünde an die Oberfläche getreten ist, erkennt der Mensch, dass der andere nackt ist. Deswegen gibt es selbst bei dieser innigsten Nähe des Menschen noch gute Gründe, die Abgründe in mir mit Schweigen zu überdecken, damit dem geliebten Partner meines Lebens nicht über eben jenem Abgrund schwindelig wird und er zu Fall kommt.

3. Der Blick der größeren Liebe

  • Bleibt also gar nichts, außer die Sünde, die geschehen ist, quälend in der eigenen Brust zu verschließen? Der Psychiater hilft nicht, er erfasst den Abgrund nicht. Die Freundschaft, selbst die Liebe des Menschen hilft nicht, sie droht selbst darin zu versinken.. So verlockend die Sünde war, die Tat lässt den Menschen matt und ausgedörrt zurück und in seinem Schweigen vereinsamt(4). Das einzige, was helfen könnte, wäre, aus sich selbst heraus, aus der eigenen Mitte heraus mit der Kraft eines Herkules die Schuld zu stemmen, mit der ich mich beladen habe. Wer es versucht hat weiß, dass dies nicht gelingt. Aber dennoch liegt hier die erste Spur zum Pfad der Heilung. Denn genau dies ist von Nöten: Eine Liebe, die mir nicht nur gegenübertritt, von außen mich sieht und zu mir spricht, sondern zugleich von Innen her, aus dem Innersten meiner Seele heraus das erkennt und trägt, was mich belastet.
  • Die Heilige Schrift bringt den Mut auf, über die Sünde zu sprechen. Sie spricht nicht nur über Ethik und Moral, über die Regeln des Lebens und Zusammenlebens. Die Schrift spricht auch über das Schuldig-Gewordensein des Menschen.
    Da geht es dann nicht nur um den Bruch des Ehevertrauens. Da geht es um jede Gewalt, die ich einem anderen Menschen zugefügt habe, da geht es um jedes Zerbrochensein des Menschen an sich selbst. Die Schrift verkündet uns Gott, der die Sünde nicht nur sieht und kennt. "Du hast unsere Sünden vor dich hingestellt, unsere geheime Schuld in das Licht deines Angesichts", sagt der Psalm (Ps 90,08). Gott vermag die Sünde, die ich zu einem Teil meiner Existenz gemacht habe, zu vergeben und einen Mantel darüber zu breiten, der nicht verschleiert, sondern behütet und bedeckt. Gott hat seinem "Volk die Schuld vergeben, all seine Sünden zugedeckt"(5), sagt der Psalm. Diese größere Liebe kann das Schweigen brechen, weil sie nicht nur von außen kommt. Gott hat in eines jeden Menschen Herzen Wohnung genommen, auch in meinem.
  • Die Kirche pflegt in den Ritualen der Vergebung die Erinnerung an diesen Gott, der als mein Schöpfer mich zugleich so umfassend begreift, dass ich vor Gott sprechen kann, wovon ich sonst schweigen muss. Es ist sogar mehr als Erinnerung, denn diese Nähe Gottes ist nicht nur Fleisch geworden und in menschliche Geschichte eingegangen durch den Gottessohn, der unter die Sünder gezählt wurde. Aus dieser Menschwerdung ist der Kirche die Vollmacht geworden. In der Diskretion eines Beichtstuhles kann erfahren und getan werden, was wir im Glauben ertasten. Nur bei dieser konkreten Möglichkeit des Sprechens und Hörens kann mein ganzes Leben samt den Schattenseiten beim Namen genannt werden. "Da bekannte ich dir meine Sünde und verbarg nicht länger meine Schuld vor dir. Ich sagte: Ich will dem Herrn meine Frevel bekennen. Und du hast mir die Schuld vergeben" (32,5).
    Wenn wir erfassen würden, wie nahe wir am Abgrund wandeln, welche Dankbarkeit würde uns erfüllen, dass Gott sich uns gezeigt hat als einer, der uns in Liebe gegenübertritt und uns zugleich vom Innersten her begreift! Diese größere Liebe trägt uns, samt unserer Schuld.

 

Anmerkungen:

1. So die Formulierung jeweils im Gesetzeswerk. Zur Vergebung im Alten Testament s.u.

2. Drastisch und im Wortsinn steckt dies hinter dem Bericht aus Apg 5,4 über den Betrug des Hannanias und seiner Frau Saphira: "Wie konntest du einen solchen Gedanken in deinem Herzen zulassen?". Die Einheitsübersetzung übersetzt aktiver: "Warum hast du in deinem Herzen beschlossen, so etwas zu tun?", und geht damit über das Original hinaus.

3. Joh 9,41: "Wenn ihr blind wärt, hättet ihr keine Sünde. Jetzt aber sagt ihr: Wir sehen. Darum bleibt eure Sünde." Hier bezieht sich die Sünde allerdings auf die Aufnahme des Gottessohnes.

4. Ps 32,3f: Solange ich es verschwieg, waren meine Glieder matt, den ganzen Tag musste ich stöhnen. Denn deine Hand lag schwer auf mir bei Tag und bei Nacht; meine Lebenskraft war verdorrt wie durch die Glut des Sommers.

5. Ps 85,03; vgl. dieses Motiv in Jeremia ab Kapitel 50.