"Quiero ser" von Florian Gallenberger (1999)
Interpretation
von Martin Löwenstein SJ
vorgetragen im Rahmen des RYLA-Seminares "Mensch und Arbeit"
Goslar-Hahnenklee, 12. Mai 2001
  1. Der Film hat seinen Oskar verdient. Die Kategorie "Short Film" ist dabei irreführend, vergleicht man "Quiero Ser" mit deutschenGewinnern aus Vorjahren wie "Quest" (1997) und "Schwarzfahrer" (1993). Es handelt sich eigentlich um einen in jeder Hinsicht vollgültigen Langfilm, außer dem Umstand eben, dass er nur 35 Minuten dauert.
    In diesen Minuten aber stimmt alles. Eine klar komponierte, humorvoll und spannend erzählte, handwerklich hervorragend umgesetzte Geschichte von Juan und Jorge, den beiden Brüdern. Als Kinder haben sie zusammen mit Straßenmusik ihre Pesos verdient. In der Rahmenhandlung des Films erkennt der erwachsene Juan, mittlerweile sichtlich zu Geld gekommen, seinen Bruder: immer noch bettelnd und singend am Straßenrand. Wie es zu der Trennung kam, erzählt der Film. Beide haben zusammen ihr erbetteltes Geld gespart, um mit 100 Pesos den Grundstock und eine Lizenz für den Straßenverkauf von Luftballons zu erwerben. Der jüngere Juan ist treibende Kraft und hält die Brüder (und das Geld) zusammen. Er ist es der sich Lesen und Rechnen beigebracht hat und mit Schläue und Hartnäckigkeit Verhandlungen führt. Wo Jorge schon mal etwas Geld für Essen ausgeben will, besteht Juan darauf, das Essen weiter wie gewohnt aus dem Abfall zu fischen. Sie müssen auf 100 Pesos sparen - und haben schon 88,30 zusammen. Jorge aber hat sich in eine junge Eisverkäuferin verguckt. Erst benutzt er nur Geld, das er nicht in die gemeinsame Kasse abgeliefert hatte, dazu bei ihr als vollwertiger Kunde aufzutreten. Dann aber stiehlt er 20 Pesos aus der gemeinsamen Kasse, um sich davon ein weißes Hemd zu kaufen und das Mädchen zum Essen auszuführen. Sein Traum aber zerplatzt. Das Mädchen lässt sich wegen eines Abendessens nicht mit Jorge ein und dessen Bruder Juan stellt ihn zur Rede. Als Jorge den Diebstahl leugnet, packt Juan seine Sachen zusammen. Er verweigert dem älteren Bruder die Verzeihung und das weitere Zusammenleben und macht sich davon. An dieser Stelle kehrt der Film in die Gegenwart zurück. Der erwachsene Juan hat sich schmerzvoll dieser Geschichte erinnert. Er steht auf, bezahlt und verlässt das Café, ohne sich seinem Bruder zu erkennen zu geben. Dieser packt seine Plastiktüten zusammen und schlurft davon.
  2. Ich konnte die Erfahrung machen, dass das Ende des Films verblüfft oder gar schockiert. Erst fragt man sich, ob Juan seinen Bruder vielleicht nicht erkannt hat. Dann erst lässt man die allen Filmerwartungen trotzende Erkenntnis zu, dass er ihn bewusst nicht anspricht, sich bewusst nicht zu erkennen gibt. Juan hat ein für alle Mal mit seinem Bruder gebrochen. Der Verrat duldet keine Vergebung. Wie der kleine Juan sagt: "Ich lasse mich lieber von andere betrügen als von dir." Damit verweigert der Film ein Happy End und eine zufriedenstellende Auflösung. Zugleich werden durch dieses Ende Fragen ausgelöst. Man stelle sich vor, die beiden erwachsenen Brüder wären sich um den Hals gefallen, hätten sich herzlich begrüßt. Was kommt danach? So entsteht die Vermutung, dass der Trennung der Brüder, wie sie einmal sind, unvermeidlich sei. Der Diebstahl des Jorge war nicht aus heiterem Himmel gekommen. Mit großer Detailgenauigkeit geht Gallenberger den Weg der Versuchung und der Niederlage nach. Auch wenn Jorge diesmal auf ganzer Linie gescheitert ist, wird er das nächste Mal - wenn alles ganz anders ist! - wieder nachgeben.
  3. Will man Gallenberger eine allgemeinere Aussage unterlegen, dann liest sich der Konflikt zwischen den beiden Brüdern als Metapher der globalen und geteilten Welt. Die zwei Brüder sind die zwei Teile. Der eine ist ausgebildet, verhandlungsgeschick, erfolgreich. Der andere der ewige Träumer und Verlierer. Der Film hielte, liest man ihn so, denen auf der Sonnenseite des Globus in Juan den Spiegel vor. Was anderes geschieht denn, als dass der erfolgreiche Bruder die gemeinsamen Wurzeln vergisst und den armen abgeschrieben hat? Und in der Tat, wer hat den eine Lösung für das globale Schisma, das in den meisten Ländern auch ein Schisma innerhalb der eigenen Grenzen ist. Die einen sind clever und gewinnen, die anderen hängen ihren Träumen nach und verlieren. (Worin die eigentliche "Erfolgstugend" Juans besteht werden wir noch sehen)
  4. Der deutsche Titel des Films ist "Gestohlene Träume". Wer hat wem eigentlich einen Traum gestohlen? Das Stichwort "gestohlen" erinnert an die gestohlenen Pesos und den gestohlenen Traum von der gemeinsamen erfolgreichen Zukunft der beiden Brüder. Das Stichwort Traum aber verweist auf Jorge und seinen Traum von der Liebe. Wer hat ihm den gestohlen? Das Eismädchen, der geizige Bruder, er selbst, die Umstände ...? Schwieriger noch ist die Frage, worin eigentlich der Traum des Juan besteht. Und ist der nicht in Erfüllung gegangen, wie er da unter den Reichen im Café sitzt?
  5. So sehr aber die Beziehung zwischen den Brüdern, Verrat und Verstoßung das emotionale Tempo und Gewicht des Films bestimmen, sie sind nicht das Zentrum. Diesem kommt man leichter auf die Spur, wenn man die Struktur des Films ansieht. Ganz am Anfang und ganz am Ende kommen in der Gegenwarts-Zeit Luftballons ins Spiel. Das erste Mal sind es zwei, das zweite Mal sind es zwei Mädchen, die mit einem Bund Ballons ins Bild kommen. Die Schlusseinstellung zeigt, wie dieser Bund vor der Silhouette moderner Hochhäuser zum Himmel steigt. Gestohlene Träume - Was wird sein? Die Beobachtung legt es nahe versuchsweise dem Film eine insgesamt konzentrische Struktur zu unterstellen. Dies bedeutet, das man versucht Signale dafür zu bauen, dass sich Teile vor und nach einer Mitte wie konzentrische Kreise um dieses Zentrum legen: A - B - C - ZENTRUM - C' - B' - A'. Diese Erzählstruktur, auch in der einfachen Form des Chiasmus A - B - A'. gehört literarisch zu den Stilmitteln, die es ermöglichen, eine Aussage in die Mitte zu legen. Die sich spiegelnden Teile können dabei inhaltlich, durch Bild- oder Musik-Motive, durch Schauplätze Personen signalisiert werden. Zwei äußere "Kreise" haben wir schon gesehen: Die Mädchen mit den Ballons und den Schauplatz Café, von dem die Rückblende ausgeht. Innerhalb der Rückblende liegt natürlich eine linear-dramatische Erzählstruktur vor. Es ist jedoch ganz überraschend zu sehen, dass diese an einer zentralen Stelle durchbrochen wird. (Vgl. die Darstellung der Szenen und der Grobstruktur)
    Der Hauptteil beginnt mit einer ausführlichen Exposition, in der alle Umstände und Personen eingeführt werden. Die Exposition wird klar beendet durch eine im Zeitraffer gestaltete Sequenz: Die beiden leben und arbeiten unter diesen Umständen, bis sie die 88,30 Pesos bei einander haben. Der Exposition entspräche dann die Auflösung der Situation in der Entscheidung Juans, sich von seinem Bruder zu trennen. Dazwischen liegt ein Teil, der durch die Adoption des Hündchen Chaco beginnt und in der eigentlichen Schuld Jorges endet, als dieser seinen Bruder anlügt. Der erstere Teil stiftet Gemeinschaft der letztere zerstört sie. Diese Teile legen sich um die Versuchung und dem Erliegen. Der kleine Verrat an dem "gemeinsamen" Traum ist, dass Jorge Geld zurückbehält, um es in ein Eis umzusetzen. Er kann damit gleichzeitig als vermögender Konsument auftreten und der von ihm verehrten Frau näher kommen. An der Stelle ist der große Verrat schon vorprogrammiert. Es ist nur ein kleiner Unterschied zwischen dem Vorenthalten des Geldes und dem Stehlen des Geldes. Wenn Jorge nachts wach liegt, träumt er sich aus, wie er mit 20 Pesos sein Liebesglück erreicht. Dabei verliert er den Blick für die Realität. Weder gewinnt er "die Liebe" seiner Dulcinea, noch hält die Brudersolidarität dieser Belastung stand.
  6. Mitten in diese Dramatik von Versuchung und Verrat sind aber zwei Szenen eingebaut, die dafür ganz überflüssig erscheinen und von der Art her in die Exposition gepasst hätten. Wenn Sie statt dessen hier stehen, legitimiert uns das, in ihnen eine, wenn nicht die zentrale Aussage des Films zu suchen. Die erste Szene spielt in und vor einem Schulschwimmbad, die andere in und vor einem Restaurant. In beiden Szenen finden sich zentrale Dialoge.
    1. Worin besteht der Traum des Juan? Die Frage ist bisher nicht beantwortet. Natürlich, Juan will 100 Pesos beisammen haben, um Ballonhändler zu werden. Und dann? Vor dem Schwimmbad sieht Juan den Kindern der Reichen nach, die in ihren Uniformen fröhlich an ihnen vorbeilaufen. Jorge spürt, was in seinem Bruder vorgeht und verfehlt doch genau den Punkt. (vgl. Zitate) Er will ihn trösten, er habe diese Schule nicht nötig. Juan aber ist lesen und schreiben, Ballonhandel und Geld immer nur Mittel zum Zweck. Er will mehr. Ist es vielleicht das dazugehören zu denen in der Schuluniform und zu denen die im Café sitzen?

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