Predigt 1. Adventssonntag Lesejahr A 2004 (Matthäus)
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28. November 2004 - Universitätsgottesdienst St. Ignatius, Frankfurt
1.
Jesus hat sich geirrt
- "Mann läuft über Wasser"
titelte die Bildzeitung ein großflächiges Plakat und macht derzeit
damit Werbung für eine günstige Sonderausgabe der Bibel. "Mann läuft
über Wasser" ist in großen schwarzen Lettern gedruckt. Drunter
etwas kleiner: "Wäre es heute passiert, stünde es in der Bildzeitung".
Man beachte: Eine Zeile der Bildzeitung mit doppeltem Konjunktiv. Was stünde
da erst in der Zeitung, wenn das eintrifft, was Jesus im heutigen Evangelium ankündigt?
Wie viele Konjunktive benutzen wir, wenn wir von der Ankunft des Herrn sprechen?
Denn die "Ankunft" meint doch "Advent". Oder hat unser Advent
nichts mehr mit der Ankunft zu tun, von der das Evangelium heute spricht? Ist
Advent nur noch plätzchenseelige Vorweihnachtszeit?
- Dann gäbe
es einiges zu korrigieren. Routiniert antwortet die Gemeinde auf den Ruf "Geheimnis
des Glaubens" mit dem Bekenntnis "Deinen Tod, o Herr, verkünden
wir und deine Auferstehung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit!" Zentraler
kann das Bekenntnis in der Liturgie kaum noch stehen. Diese Ankunft in Herrlichkeit,
dieser Advent, ist Inhalt des heutigen Evangeliums. Jesus verspricht mit aller
Emphase, dass noch zu Lebzeiten der Generation der Jünger diese Welt ihr
Ende findet und er wiederkomme: In Herrlichkeit.
- Jesus hat sich geirrt.
Wir sollten es ruhig einmal sagen. Es kann keinen Zweifel daran geben, dass die
Erwartung, dass die Welt, wie wir sie kennen, in allernächster Zeit zu Ende
geht, dass die Sterne vom Himmel fallen und das Zeichen des Menschensohnes am
Himmel erscheint, dass all dies nur wenige Jahre nach Jesu Tod am Kreuz eintritt
- es kann keinen Zweifel daran geben, dass all dies Jesu ureigenste Erwartung
war und nicht eingetreten ist. In 2000 Jahren haben die Christen viele schöne
Erklärungen dafür gefunden, dass es Jesus doch anders gemeint habe,
irgendwie symbolisch. Ich schlage vor, wir sollten den Gedanken ruhig zulassen:
Jesus hat sich geirrt.
2. Meinen wir das, was wir sagen?
- Vielleicht haben Christen notorisch ein gestörtes Verhältnis zur
Realität. Wir sind daran gewöhnt, Dinge zu behaupten, die der einfachen
Nachfrage nicht stand halten: Stimmt das denn? Wir behaupten im Indikativ. Wenn
jemand nachfragt, folgen Konjunktiv und Ausfluchten ins Ungefähre. Deswegen
ist es eine gute Nagelprobe zu fragen: Stimmt das wirklich, dass die Welt und
die Geschichte zu Ende gehen - und zwar nicht erst in ein paar Millionen Jahren,
wenn unsere Sonne ausgeglüht ist. Glauben wir das wirklich oder ist die ganze
Rede von der Wiederkunft des Herrn, der zweiten Ankunft Christi, für uns
nur eine Chiffre für etwas, das sich im individuellen Tod eines jeden einzelnen
von uns ereignet. Ist unser Indikativ unernst?
- Es kann nur einen einzigen
Grund geben, trotzdem an das Ende der Welt zu glauben. Aus unserer Welterfahrung
und aus aller Naturwissenschaft ist das nicht abzuleiten. Wir sind ein Teil dieser
Welt und in den Denkkategorien dieser Welt ist ihr Ende nicht zu denken. Der einzige
Grund, es dennoch zu glauben, ist die Überzeugung, dass von außerhalb
dieser Welt, außerhalb von allem, was wir uns vorstellen können, dieses
Wort und diese Offenbarung auf uns gekommen ist. Nur wenn Gott sich offenbart,
nur wenn Jesus es von Gott weiß, dann ist es möglich, zu glauben, was
er sagt: "Himmel und Erde werden vergehen, aber seine Worte werden nicht vergehen."
- Doch
Jesus hat sich geirrt. Zumindest in dem einen Punkt ist er zweifelsfrei widerlegt,
dass all das bald einträfe, noch zu Lebzeiten "dieser Generation"
seiner Jünger. Es macht für mich das Evangelium ungeheuer glaubhaft,
dass dieses Wort Jesu nicht verschämt unter den Tisch gefallen ist, sondern
stehen blieb. Offenbar war die Naherwartung Jesus so wichtig, dass sich die junge
Kirche auch dann nicht getraut hat, das zu streichen, als der angegebene Zeitraum
eindeutig verstrichen war. Das sollte all denen zu denken geben, die meinen, die
Evangelisten und die Kirche hätten willkürlich Jesu Botschaft verändert.
Denn das heutige Evangelium wäre dann als erstes frisiert worden. Jesu Botschaft
und Leben ist aber nicht zu verstehen, christlicher Glauben ist damit nicht möglich,
wenn wir uns nicht auf die Erwartung Jesu einlassen, dass all dies bald geschieht
- unmittelbar vor der Tür steht.
3. Advent muss bald
sein
- Christlicher Glaube ist keine Wohlfühlreligion.
Das sollte schon die Botschaft vom Kreuz klarstellen. Vielmehr setzt mich der
Glaube an Jesus Christus in bohrende Zweifel. Ich kann nicht gleichzeitig diese
Welt in ihrer verlässlichen Gesetzmäßigkeit für unhinterfragbar
halten und feierabends an Jesus Christus glauben. Das ist intellektuell unredlich
und auf Dauer schizophren. Jesus mutet uns zu, die verlässliche Gesetzmäßigkeit
in Frage zu stellen: Die Sterne, die ihre wohlgeordnete Bahn drehen, die Ordnung
von unten und oben, reich und arm, mächtig und beherrscht, und mich selbst
im Mittelpunkt meiner Interessen, das nutzenmaximierende Individuum.
- Gottheit
und Menschheit Jesu zugleich, das ist der Skandal. Das wird mir am heutigen Evangelium
noch einmal deutlich. Ja und Amen, ich glaube, dass Jesus Christus Gottes Offenbarung
für uns ist, Gottes eingeborener Sohn, wahrer Gott. Doch dieser Sohn Gottes
teilt meine bohrenden Zweifel im Angesicht Gottes. Als Mensch hängt er mit
jeder Faser seines Lebens an dieser Welt. Zugleich ist er von Gottes Wirklichkeit
so erfüllt, dass er keinen Zweifel daran hat, dass diese Welt zu Ende geht,
ja, dass es nicht anders sein kann, als dass dieses bald geschieht. Wann es geschieht,
wissen die Engel nicht, die Sektenprediger in der Fußgängerzone schon
gar nicht - noch nicht einmal der Sohn, in dem Gott einer von uns wurde. Es kann
aber nicht anders sein, als dass es bald geschieht. Für Christen ist das
Hoffnung und frohe Botschaft.
- Advent muss zu einer Zeit des Zweifels werden.
Das Einlullen durch Kaufhausmusik passt nicht dazu. Vielmehr müssen wir unser
Verhältnis zu all den Selbstverständlichkeiten und Gewohnheiten unseres
Lebens auf den Prüfstand stellen. Nicht im Konjunktiv "was würde ich
tun", sondern im Indikativ "was tue ich", wenn morgen diese Welt zu Ende geht?
Nicht die Abwendung vom Leben ist die Konsequenz, sondern die Hinwendung in unbegreiflicher
Liebe. Martin Luther wollte heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen, wenn morgen
die Zeit zu Ende geht und Ewigkeit ist. Was würden Sie tun, wenn der Herr
vor der Tür steht, nicht irgendwann - sonder ganz, ganz bald? Amen.