Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Genesis 1 - Vortrag "Révision de Vie" - Leben neu sehen lernen

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6. März 2014 - Kleiner Michel (St. Ansgar), Hamburg

Révision de Vie Leben neu sehen lernen, Donnerstag, 6. März 2014
Geistliche Vorträge über den liebenden Blick Gottes auf den Menschen,
entlang der sieben Lesungen der Osternacht aus dem Alten Testament.

Genesis 1, 1 - 2, 4a - Schöpfung
Vortrag von Pater Martin Löwenstein SJ

18.00 Uhr

Impuls zu 30 Minuten Stille:
In der Stille strömen alle Gedanken auf mich ein. Manchmal gelingt in der Stille aber auch Klarheit. Nehmen Sie sich die halbe Stunde Stille um zu sehen, wo bei Ihnen ein Bereich ist, den Sie gerne etwas "aufräumen" würden: den Schreibtisch im Büro oder die Beziehung zu einem bestimmten Menschen - oder was auch immer bei Ihnen derzeit am meisten den Wunsch nach mehr Klarheit weckt.

19.00 Uhr

Lesung: Genesis 1, 1 - 2, 4a

*** Musikalisches Zwischenstück ***

1. "Die Erde war wüst und wirr, Finsternis lag über der Urflut"

  • Als die Deutschen 1939 Polen überfallen haben, hatten sie das Ziel, die gesamte Intelligenz des Landes zu ermorden. Wer studiert hatte, ob Apotheker, Pfarrer, Lehrer oder gar Professor, sollte ermordet werden, damit dieses Land keine Zukunft habe.
    Die Deutschen hatten dieses blutige Werk bereits begonnen; zum Glück ist der Krieg anders verlaufen als sie dachten.
  • Gemessen an diesem Vernichtungswerk war die Verschleppung der Elite des Volkes Israel im 6. Jahrhundert vor Christus durch die Babylonier harmlos. Aber auch hier sollte eine Nation vernichtet werden. Deswegen wurde die gesamte Oberschicht Israels nach Babylon, in das "Babylonische Exil" verschleppt.
  • In dieser Zeit wurde der Text, den wir heute am Anfang der Bibel finden, aufgeschrieben. Der Schrecken der damaligen Zeit bildet den Hintergrund dieser Erzählung. Deswegen müssen wir vielleicht erst in unsere eigene Finsternis hinabsteigen, um diesen Text richtig zu verstehen.

"Die Erde war wüst und wirr, Finsternis lag über der Urflut"

  • Fast alle Teile dieser Erzählungen in der Bibel finden wir auch in den Erzählungen der Völker um Israel herum. Die Menschen haben, so denke ich, weiter erzählt, was sie von anderen Kulturen und Völkern gelernt haben. Es steckt eine Ahnung über die Entstehung der Welt in diesen Erzählungen. Aber je mehr Menschen aus dem Volk Israel diese Erzählungen selbst weiter gegeben haben, merkten Sie dass darin ihr eigener Glaube und ihre Erfahrung Gottes so noch nicht vorkommt. So haben sie mit jedem Mal, das sie diese Erzählungen ihren Kindern weiter gesagt haben, etwas von ihrem Glauben mit hinein erzählt. So wurde das, was allgemein Wissen der alten Welt war, zum Zeugnis des Glaubens Israels.
  • Die biblische Forschung geht heute davon aus, dass in der Zeit des Exils in Babylon dann der Text, wie wir ihn heute kennen, aufgeschrieben wurde. Das ist mehr als 2500 Jahre vor unserer Zeit. So etwas konnte nur aufgeschrieben werden, wenn dahinter die lange Glaubenserfahrung einer Gemeinschaft und eines Volkes steht. Zunächst braucht es einzelne Menschen die sich in Glaubensfragen was am Anfang steht, worauf sie vertrauen und wer ihnen Zukunft gibt.
  • Der Auslöser für die Erzählung von Gott, der die Welt erschafft, ist aber erst einmal eine Erfahrung von Unheil, in der allein noch jede Erfahrung der Treue Gottes schweigt:

"Die Erde war wüst und wirr, Finsternis lag über der Urflut" oder in der Übersetzung von Martin Buber, die die Wucht des hebräischen Originals spüren lässt: "Die Erde war Irrsal und Wirrsal. Finsternis über Urwirbels Antlitz."
Lassen wir die Wucht dieser Worte ein wenig in uns wirken: "Irrsal, Wirrsal, Finsternis".

*** Musikalisches Zwischenstück ***

  • Sprache vermag Erinnerung zu wecken und Verdrängtes empor zu heben. Für die meisten von uns sind das weder die kosmischen noch die großen geschichtlichen Ereignisse.
    Syrien liegt zwar an der Grenze Europas, die Ukraine und die Krim jedoch ebenso eindeutig bei uns in Europa selbst, wie es der Krieg in Jugoslawien war; dennoch war und ist das Chaos, das Morden und Sterben dort uns fern. "Irrsal und Wirrsal und Finsternis". Es sind wahrscheinlich ganz andere Erfahrungen, in denen den Einzelnen unter uns hier das bedrohliche Chaos begegnet.
  • Wenn die Existenzgrundlage entzogen wird, weil mit dem Arbeitsplatz auch das soziale Netzwerk verloren geht;
  • wenn mit dem Alter nicht Ruhe und Zufriedenheit, sondern schleichende Angst bestimmend wird;
  • wenn ein Mensch entdecken muss, dass das Vertrauen und die Zuneigung, die er einem anderen geschenkt hat, von diesem nur benutzt wurde, um Gewalt auszuüben;
  • wenn Gewalt, Überwältigung und Vergewaltigung erniedrigt und jedes Vertrauen in andere Menschen zerstört;
  • oder wenn eine medizinische Diagnose einen Menschen von jetzt auf gleich mit nahem Leiden oder Tod konfrontiert;
  • oder wenn der Tod gar selbst an die Tür klopft, sei es um einen geliebten Menschen zu holen, mit dem ein Teil von einem selbst wegbricht, sei es, um unerbittlich den eigenen Lebensfaden abzuschneiden....
  • "Finsternis über Urwirbels Antlitz."
  • Das Chaos und die Finsternis bringt aus sich keine Zukunft hervor. Die Finsternis steht da wie ein schwarzes Loch, das alles in sich hineinsaugen und verschlingen will.
    Ich weiß, dass es nicht selbstverständlich, ja nicht einmal erwartbar ist, dass ich solche Finsternis selbst noch nicht erfahren musste. Dieses Glück ist nicht selbstverständlich, ja nicht einmal erwartbar.

2. Révision de Vie - Leben neu sehen lernen

  • Wir haben die Reihe der Geistlichen Vorträge an den Donnerstag Abenden in der Fastenzeit unter die Überschrift "Révision de Vie" gestellt. Der Ausdruck kommt aus französischen spirituellen Traditionen unter anderem der Christlichen Arbeiterjugend und wurde von den Gemeinschaften Christlichen Lebens (GCL) aufgenommen, die geprägt sind von den Exerzitien des Heiligen Ignatius von Loyola und der auf ihn zurück gehenden ignatianischen Spiritualität, der auch der Jesuitenorden sein Charisma verdankt.
    "Révision de Vie" bedeutet in dieser Tradition, die Lebenserfahrungen im Glauben neu anschauen. Wenn der Katechismus der Katholischen Kirche in Nr. 1435 das mit "Überprüfung des eigenen Lebenswandels" übersetzt, ist das nur ein Aspekt. "Révision de Vie" ist zunächst einmal der geistliche Weg, die eigenen Lebenserfahrungen anzuschauen. Das klingt leichter, als es ist, weil es oftmals ein tiefes Vertrauen in die Treue Gottes braucht, wirklich hinzuschauen und die Erfahrungen gelten zu lassen, statt sie durch vorschnelle Bewertungen und Theorien wegzudrücken.
  • Unsere Vorträge sowie die Musik und die Stille wollen also helfen, das eigene Leben neu sehen zu lernen, einer Re-Vision zu unterziehen, indem wir die alttestamentlichen Lesungen aus der Osternacht hören und darin Gott begegnen, der unsere Lebensgeschichte mit liebender Barmherzigkeit sieht, statt mit der Unbarmherzigkeit, mit der wir allzu oft uns selbst begegnen.
  • Das gilt besonders und an erster Stelle für die Finsternis in uns, das Chaos der Gefühle, Beziehungen und Strukturen, die uns den frohen Atem nehmen und die Brust eng werden lassen. Das gilt für die Schuld, die andere auf uns geladen haben ebenso, wie die eigenen Verstrickungen in Schuld, an der wir tätig beteiligt sind. All das ist die Finsternis, von der die ersten Verse der Bibel sprechen.
  • Aber im Anfang und im Grund dieser Welt ist eben nicht die Finsternis, sondern da ist Gottes Geist über den Wassern. "Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde; die Erde aber war wüst und wirr, Finsternis lag über der Urflut, und Gottes Geist schwebte über dem Wasser."
    Im Anfang und im Grunde ist nicht das Chaos, sondern Gott, der etwas ganz Eigentümliches macht: Er schafft Himmel und Erde. Er, der ohne Anfang und Ende ist, will, dass es einen Anfang gebe für all das, was wir als geistige und materielle, himmlische und irdische Wirklichkeit kennen. Gott will und bringt hervor, was wir sind, was wir haben und was unser Leben ausmacht. "Im Anfang" bedeutet dabei nicht einen zeitlichen Anfang, sondern den inneren Grund von allem, was es gibt, wie auch sonst biblisches Denken immer das Wesen und das Wesentliche meint, wenn es den Ursprung beschreibt.
  • Ja, die Erde war "wüst und wirr" und da lag eine "Finsternis über der Urflut", den Chaosfluten, die so bedrohlich erscheinen. Aber zugleich heißt es "Gottes Geist schwebte über dem Wasser". "Révision de Vie" bedeutet, über allem noch einmal Gottes Geist Raum zu geben. "Révision de Vie" bedeutet, den Blick dafür zu öffnen, dass Gottes gutes Wollen im Anfang von allem ist und daher auch allem Zukunft und Leben geben kann, eine Zukunft, die nur im Blick auf die toten Notwendigkeiten der Materie und der Zwänge des Lebens allein nicht aufscheint.

3. Die Dinge ordnen

  • Wie erzählt ein glaubender Mensch das Werden der Welt? Die einzelnen Bausteine der Erzählungen und Dichtungen im Buch Genesis, am Anfang der Bibel, stammen wohl aus den Überlieferungen der Völker ringsum und der Kulturen der alten Welt. Aber die Glaubenserfahrung lässt sie anders erzählen, macht sie reich aus der Erfahrung des einen Gottes, der größer ist als alles, was nur geschaffen ist, und der doch seinem Volk so unbegreiflich nahe und treu ist.
  • "Gott scheidet das Licht von der Finsternis"; "Gott scheidet das Wasser unterhalb des Gewölbes vom Wasser oberhalb des Gewölbes"; Gott nimmt "Lichter am Himmelsgewölbe, um Tag und Nacht zu scheiden". Anders gesagt: Gott bringt nüchtern Ordnung in das Chaos.
    Das entspricht genau der Erfahrung des Gebetes. Mir selbst überlassen überflutet mich schnell, was mir bedrohlich erscheint. Wenn ich mit den selben Erfahrungen, die eben noch nur "wüst und wirr" erschienen, in das Schweigen des Gebetes und in die Gegenwart Gottes gehe, dann merke ich, wie sich nicht nur im Kopf, sondern mehr noch im Herzen die Dinge zurecht rücken. Im Angesicht Gottes relativiert sich - im guten Sinne des Wortes! - das Lebensbedrohliche. Die Erfahrungen werden relativ, bezogen auf den Ursprung und das Ziel des Lebens.
  • Die erste Scheidung betrifft Licht und Finsternis. Dies betrifft vor allem all jene Erfahrungen, in denen mir nicht klar ist, ob etwas licht oder finster ist. Nach einer alten spirituellen Weisheit, ist es nicht selten so, dass das Böse im Gewand des Guten auftritt. Die Schlange, wird es in dem anderen Text der Bibel vom Anfang der Welt heißen, verführt, indem sie verlockend aussehen lässt, was doch nur Anlass für Misstrauen und Gewalt ist. Adam und Eva mag die Frucht wie Licht erschienen sein, obwohl sie doch nur Finsternis in sich barg.
    Ebenso sollte gerade der gläubige Mensch das, was so gar fromm daher kommt, immer auch daraufhin besehen, ob es das Leben fördert, ob es zu mehr Glaube, mehr Hoffnung und mehr Liebe führt, oder ob es nicht das Gehäuse meiner eigenen Rechthaberei ist, oder nur dazu dient, mich mit Gleichgesinnten stark und im Recht zu fühlen, wo doch in Wirklichkeit nur die Unfähigkeit ist, die Dinge mit nüchternem Blick zu unterscheiden: Licht und Finsternis.
  • Die zweite Scheidung betrifft "das Wasser unterhalb des Gewölbes vom Wasser oberhalb des Gewölbes".
    Dahinter steckt die Vorstellung, dass das Blau des Meeres und das Blau des Himmels beide Male von Wasser herrührt. Und wie das Ufer uns vor der Urgewalt der Meere und Ozeane schützt, so hält ein Gewölbe das Wasser oben, am Firmament zurück, damit es nicht wie eine Urflut über uns hereinbricht und uns vernichtet.
    Wenn Gott dies Wasser oben und unten von einander scheidiet und so einzig durch sein souveränes Wort trockenen, festen Boden werden lässt, dann sagt das: Hier ist Raum, wo wir leben können. Ja, es gibt die bedrohlichen Urfluten. Aber entscheidend ist, ob ich Gott traue und glaube, dass die Fluten uns nicht vernichten, sondern Gott diese Welt trägt und hält.
    Einen Unterschied zu den außerchristlichen Vorstellungen kann man sich leicht vor Augen stellen, wenn man das biblische "Gott sprach - und es geschah" mit dem Bild eines Halbgottes Atlas vergleicht, der an den Rand seiner immensen Kräfte kommt, wenn er die Welt auf seinen Schultern schleppen muss. Die Bibel lädt uns ein darauf zu vertrauen, dass Gott die Bedrohungs-Wasser zu scheiden und zurück zu halten vermag. Du Mensch, bist nur dazu berufen, Gott zu trauen und nach der Gerechtigkeit zu streben, zu der er dich berufen hat.
  • Von der dritten Scheidung heißt es, Gott nimmt "Lichter am Himmelsgewölbe, um Tag und Nacht zu scheiden".
    Damit sind zunächst Sonne und Mond, mehr aber noch die Vielzahl der Sterne gemeint. Wir können uns die Schilderung des Vorganges nicht skandalös genug vorstellen. Für praktisch alle altorientalischen Kulturen waren die Gestirne Götter. Astrologie, die Wissenschaft vom Zusammenhang von irdisch zugeteiltem Schicksal und Konstellation der Sterne wurde mit größtem Ernst betrieben. Die besondere Vorliebe von Gewaltherrschern für diese Form von Schicksalswissenschaft lässt sich bis in die Moderne beobachten. Die Nazi-Größen waren allesamt von der Bedeutung der Astrologie überzeugt. Und auch beim einfachen Volk hat das bis heute eine hohe Verbreitung.
    Die Bibel aber kommt daher und erklärt das ganze Meer der Himmelslichter zu Positionsleuchten, die Gott wie Lampions an das Firmament gehängt hat. Für unser Schicksal ist allein die Treue zu dem einen, lebendigen Gott Ausschlag gebend. Wer sich nach den Sternen richtet ist wie eine Katze, die im Dunkeln Glühwürmchen nachjagt  - nur dass Katzen nicht auf die Idee kämen, ihre Glühwürmchen für Götter zu halten.
    Wozu aber nimmt Gott die "Lichter am Himmelsgewölbe"? Einerseits, Sonne und Mond, ganz pragmatisch "um Tag und Nacht zu scheiden". So gibt es einen Rhythmus von Wachen und Schlafen.
    Dann aber folgt eine zweite Begründung: "zur Bestimmung von Festzeiten, von Tagen und Jahren dienen". Hier schon deutet sich an, worauf die ganze Schöpfung Gottes hinaus läuft: Auf das Fest, die Feier, den Sabbat, als dem siebten Tag der Woche, der heilig sein soll. Die dritte Scheidung betrifft also die Scheidung von Arbeit und Ruhe, von Fest und Alltag, von Heilig und Profan.
    Wenn wir eingangs von dem Chaos und der Finsternis sprachen, die den Menschen zu verschlingen drohen, dann erhalten wir hier die erstaunliche und doch wesentliche Antwort auf die Frage, wie Gott uns vor dem Chaos bewahrt: Indem er uns geheiligte Zeiten schenkt, Orte und Zeiten aussondert, die nicht kommerzialisiert und verzweckt werden dürfen, sondern ganz für sich stehen. Gott selbst, so sagt die Erzählung, gibt uns Menschen ein Vorbild, indem er am siebten Tag ruht, und er erschafft damit zugleich das, was als Lebensraum für den Menschen mindestens so wichtig ist, wie alles andere: Heiliges, Unverfügbares, in sich Wertvolles, Feste und Feiern des Lobpreises.
    Die dritte Unterscheidung des Schöpfungshandeln Gottes erinnert mich daran, dass dann, wenn ich denke ich würde vor Arbeit untergehen und in der Flut der eMails ertrinken, ich es mir nicht erlauben kann, keine freie Zeit zu haben und auf die Zeit des Feierns und des Gebetes zu verzichten. Im Gegenteil. Nie ist die von Gott geheiligte Zeit so wichtig wie dann, wenn ich Sklave eines überbordenden Terminkalenders bin.
  • Diese dreifache Scheidung macht die Schöpfung Gottes gut und wertvoll. Wo ich als Mensch aus der Beziehung zu Gott lebe, wird Licht von Finsternis unterscheidbar, scheiden sich die bedrohlichen Wasser und öffnet Gott einen Raum festen Bodens, auf dem ich leben kann; und drittens schenkt er uns die Sterne als Kalendermarkierung für Feste und geheiligte Zeiten, um knechtische Arbeit von der Freiheit des Heiligen zu scheiden.

*** Musikalisches Zwischenstück ***

4. Révision de Vie - mein Leben neu sehen

  • Wenn Sie die Bibel selbst zur Hand nehmen, oder zumindest den Zettel mit dem kleinen Abschnitt am Beginn, dann werden ihnen sicher noch ganz andere Lichtblicke auf das eigene Leben auffallen. Es ist ja ganz deutlich, dass die Bibel ganz sicher nicht ein platter naturkundlicher Text ist. Diejenigen, die meinen diese Erzählung am Anfang der Bibel müsse als Widerspruch zu einer naturkundlichen Evolutionstheorie gelesen werden, sind in meinen Augen Blasphemisten, weil sie das heilige Wort Gottes zum Biologie-Schulbuch degradieren. Statt dessen können wir von dem, wovon die Bibel Zeugnis gibt, ganz Anderes, Heilsameres, Lebensförderndes lernen.
  • Ich habe angedeutet, dass die Bibeltexte vor allem am Anfang des Buches Genesis sich gläubigen Israeliten verdanken, die die Weltweisheit ihrer Zeit im Licht ihrer Glaubenserfahrung deuten. Die Menschen haben sich gefragt, was die ihnen geläufigen Thesen über den Ursprung und die Entstehung der Welt bedeuten, wenn der Gott, der sie als sein Volk berufen hat, wahrhaftig der Herr des Himmels und der Erde und der Gütige und Barmherzige ist, reich an Huld und Treue.
    Das Ergebnis dieser révision der altorientalischen Weltweisheit im Licht des Glaubens ist uns heute Heilige Schrift und Wort Gottes und damit Maßstab, auch unsere heutige Weltweisheit im Licht des Glaubens zu sehen und zu deuten. Der Révision de Vie entspricht also auch eine révision des Denkens.
  • In dieser Linie hat dann der Bibeltext sehr wohl etwas mit den modernen Evolutionstheorien zu tun. Denn dort, wo moderne Wissenschaft und Wirtschaft übergriffig werden, wo Menschen meinen, aus messbaren und zählbaren Beobachtungen Theorien über den Sinn und Ursprung des Lebens bilden zu können, dort liegen sie genauso falsch wie alle Pseudo-Theologen, die meinen aus der Bibel Naturwissenschaft ableiten zu können.
    Vielmehr ist es an uns als Christen in der Tradition des Volkes Israel die Weisheit dieser Welt einer révision zu unterziehen, die nach dem zu Grunde liegenden Sinn fragt, also nach dem, was Fakten alleine verschweigen.
    Moderne mathematische Wissenschaft kann im Kern immer nur zeigen, dass A und B mit höchster Wahrscheinlichkeit zusammen auftreten, dass dieses Phänomen in einer Naturgesetzlichkeit beschrieben werden kann, die sich in der technischen Umsetzung bewährt und eine Hypothese darüber enthält, dass A kausal B bewirkt. Aber warum all das im Anfang geschieht und was der Sinn und das Ziel des Daseins ist, darüber kann eine Naturwissenschaft, die sich selbst ernst nimmt, keine Auskunft geben. Ihre Methoden geben es nicht her.
  • Was aber, wenn ich die Faszination einer Evolution des Weltalls und der Natur studiere und begreife, dass im Licht des Glaubens die Evolution zum Staunen über Gottes Schöpfung führt?
    Was aber, wenn die Evolution der Dinge mich lehrt, die Evolution des Geistes zu sehen?
    Was aber, wenn wir so neu lernen zu sehen, wie alles in Gott, dem Einen, seinen Ursprung hat und sich im Glauben offenbart dass das, was wie nackte Gesetzmäßigkeit oder kalter Zufall aussieht, auf einen Punkt zuläuft, an dem sich uns Christus als das Ziel des Alls darstellt?
    Der französische Naturforscher und Jesuit Pierre Teilhard de Chardin hat vor über fünfzig Jahren bereits eine solche neue Sicht der Evolutionslehre in seiner Christus-Mystik entwickelt.

Unter dem Einfluss unseres Glaubens kann das Weltall, ohne äußerlich seine Züge zu ändern, geschmeidig werden, sich beseelen, sich über-beseelen . . . Glauben wir? Dann beginnt alles um uns herum zu leuchten und nimmt Gestalt an: Der Zufall ordnet sich ein, der Erfolg erhält eine unzerstörbare Fülle, der Schmerz wird zur Heimsuchung und zur Liebkosung Gottes. Zögern wir! Dann bleibt der Fels ohne Wasser, der Himmel schwarz, das Meer heimtückisch und stürmisch, und wir könnten angesichts unseres verpfuschten Lebens die Stimme des Meisters hören: Oh, ihr Kleingläubigen, warum habt ihr denn gezweifelt? (in: Der Göttliche Bereich 1962, S. 163f)

  • Die Schöpfung im Anfang und Urgrund von allem Sein hat ihr erstes Ziel im Menschen, den Gott als sein Abbild geschaffen hat. Wie in der Antike ein Standbild des Königs dieses repräsentierte, wenn der König nicht anwesend war, so sollen wir Menschen im Gegenüber zur ganzen Schöpfung als Gottes Abbild seine Barmherzigkeit und Güte zur Darstellung bringen.
    Gott traut uns das zu. Trotz allem. Und er selbst hat uns die Hilfen gegeben, dass diese Re-Vision Wirklichkeit werden kann. Er ordnet das Chaos und bannt die Finsternis. Die Schöpfungserzählung am Anfang der Bibel ist damit selbst schon ein Evangelium, Gute Botschaft.
    Deswegen eröffnen mit diesem Text die sieben alttestamentlichen Lesungen der Osternacht, der Feier des neuen Lebens, zu dem Gott uns führen will.

*** Musikalischer Abschluss ***