Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt zum 15. Sonntag im Lesejahr C 2013 (Lukas)

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14. Juli 2013 - Kleiner Michel (St. Ansgar), Hamburg

1. Lieblingsgebote

  • Ich scheitere immer wenn ich gefragt werde, was wohl mein Lieblingsbuch, mein Lieblingsfilm, mein Lieblingsessen oder gar meine Lieblingsbibelstelle sei. Immer muss ich bei diesen Fragen passen. Ich habe dergleichen nicht. Natürlich gibt es Bücher, Filme oder auch Bibelstellen, die mich mehr oder weniger ansprechen. Aber das berühmte Lieblingsdingsda kenne ich nicht. Vielmehr ist das ganz und gar von Situationen, Stimmungen, Zeiten abhängig. Und vielleicht bin ich ohnehin mehr ein Freund von Abwechslung als von Lieblingsessen.
  • Wenn sich Jesus mit dem Gesetzeslehrer über das Doppelgebot von Gottes- und Nächstenliebe unterhält, dann steht in der Fassung im Lukasevangelium nichts davon, dass dies das erste oder wichtigste Gebot sei (wie bei Mt 22,36 oder Mk 12,28). Selbstverständlich geht es nicht um ein "Lieblingsgebot", das mir besonders gefällt - zumindest derzeit, und später können wir mal weiter sehen.
  • Vielmehr geht es bei dem Gespräch Jesu mit dem Schriftgelehrten darum, welchen Weg die Bibel kennt, "um das ewige Leben zu gewinnen" - also nicht diesen oder jenen Vorteil, diese oder jene Well-Feeling-Maximierung, sondern darum, wie unser Leben fundamental und im Ganzen gelingen kann. Dazu gibt die Bibel als Antwort eine Regel, die so allgemein und grundlegend ist, dass sie alles prägen und durchdringen kann, was wir denken, reden und tun: "Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deiner Kraft und all deinen Gedanken, und: Deinen Nächsten sollst du lieben wie dich selbst." Das ist nicht ein Gebot unter anderen, das ist nicht eine Regel neben anderen, auch nicht eine über den anderen, sondern ein Grundsatz, der alles prägen und durchdringen muss, der allem seinen Geschmack geben muss, damit das Ganze des Lebens gelingt.

2. Nächste

  • Jedem Juden war und ist das, was die beiden bisher mit einander beredet haben, völlig klar. Deswegen die Nachfrage des Schriftgelehrten: "Und wer ist mein Nächster?" Denn der oberste Satz von der Gottes- und Nächstenliebe ist zu recht ganz allgemein und unbestimmt, weil er grundlegend sein soll. Bei der Frage aber, wer der Nächste sei, wird es konkret. Und damit wird es spannend.
  • Die Antwort Jesu macht zunächst deutlich: Die Frage nach dem Nächsten stelle nicht ich mir, sozusagen theoretisch bevor ich aus dem Haus gehe, als Entscheidungsfrage, wohin ich gehen solle. Die Frage ereignet sich vielmehr. Der Geschäftsmann aus Samarien hatte nicht vor, einem Bedürftigen zu helfen, als er die Reise von Jerusalem nach Jericho angetreten hat. Vielmehr kam er in die Situation. Er unterscheidet sich von den anderen darin, dass er nicht nur sieht, sondern auch hingeht. Für ihn ist das die Berufung, in die Gott ihn in diesem Augenblick gesteckt hat - ob es ihm gefällt oder nicht. Die anderen, heißt es, gingen vorbei. Er ging hin. Er macht das, was die Situation von ihm erfordert und was er im Rahmen seiner Mittel kann. Er kümmert sich notdürftig um den Verletzten, lädt ihn auf sein Reittier, bringt ihn in die nächstgelegene Herberge und sorgt dafür, dass der Verletzte genesen und seinen eigenen Weg wieder aufnehmen kann. Hier, in diesem ebenso Zufälligen wie offensichtlich für den Samariter Selbstverständlichen ist der Ort, an dem sinnvoll gefragt werden kann, wer denn mein Nächster sei.
  • Für Sieghard Wilm, Pastor an der lutherischen St. Pauli-Kirche, gut 500 Meter von hier (St. Josef/Große Freiheit) entfernt, mag das die Situation gewesen sein. Er hatte nicht geplant, sondern es ist ihm passiert, dass eine Gruppe von Flüchtlingen aus Afrika, die aus Italien in den Norden verschoben worden sind, bei ihm landeten. Und seine Gemeinde und er haben vermutlich weniger entschieden, als dass es ihnen passiert ist, dass diese Flüchtlinge nun in der St.Pauli Kirche Obdach und Asyl (das ist es letztlich doch!) gefunden haben. Korrekt formuliert würde ich sagen: Gott hat ihnen diese Berufung geschenkt. Viele andere Hamburger unterstützen sie dabei. Damit müssen sie sich nun auseinander setzen.

3. Gott

  • Sind Pastor Wilm und ist die St. Pauli Gemeinde deswegen besser als wir? Mag sein; zumindest sollte man die Frage zulassen können. Aber bei dem biblischen Gebot der Gottes- und Nächstenliebe geht es eben nicht platt um solch eine moralische Frage. Nicht einfach von moralischen Regeln, sondern von lebendigen Beziehungen zwischen Gott und Menschen spricht die Bibel.
    Und die letzteren sind kompliziert, im Falle der Libyen-Flüchtlinge sogar deutlich komplizierter, als auch das Beispiel aus dem Evangelium. Denn dort konnte mit überschaubaren Mitteln individuell geholfen werden. Bei der St. Pauli-Gemeinde handeln die Beteiligten in einem hoch komplizierten Umfeld von welt- und europapolitischen, aber auch von sehr nationalen und regionalen Zusammenhängen. Da gibt es keine einfachen Lösungen. Es gibt auch keine einfachen Antworten. Pastor Wilm und seine Gemeinde haben sich von Gott in eine Situation führen lassen, die ihr Denken und Urteilen grundlegend verändern wird, wo Asylfragen nicht mehr abstrakt, sondern mit konkreten Menschen und ihrem Schicksal verbunden sind.
  • Dies fordert in so einer Situation zu einem Handeln, das von keinem staatlichen Gesetz geregelt ist - und auch von keinem religiösen Gesetz. Man wird zwar in der Bibel viele Stellen finden, die von besonderer Fürsorge für die Fremden sprechen. Aber daraus lässt sich nicht einfach ein Gebot ableiten, wie die Asylgesetzgebung in einer globalisierten Welt zu gestalten und anzuwenden ist.
    Vielmehr ist hier der Ort, an dem das Doppelgebot unseres Evangeliums greift: Nicht als fixe Handlungsanweisung, sondern als Hilfe, die das Denken, Fühlen und Handeln durchdringen kann und den Beteiligten zeigt, wozu Gott jeden von ihnen in dieser Situation beruft. Das Doppelgebot löst keine Probleme; es schafft vielleicht sogar welche, weil es eben nicht wie beim Samariter bei einer individuellen, zeitlich begrenzbaren Hilfsaktion bleibt. Wenn die große Weltpolitik keine Lösung findet, dann bleibt doch das Angesicht dessen, der unter die Räuber gefallen ist - und der Gott, der mich einlädt ihn in all diesen Beziehung von ganzem Herzen zu lieben.
  • Handeln, auch wenn die Konsequenzen unabsehbar sind. Das mir Mögliche tun, weil die Begegnung mit dem Menschen, der Opfer von Krieg, Gewalt, Armut und Vertreibung geworden ist, es zur Berufung macht.
    Hier wird für mich klar, dass das Doppelgebot wirklich ein doppeltes ist und warum die Gottesliebe "mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deiner Kraft und all deinen Gedanken" an erster Stelle steht. Denn Jesus sagt am Schluss nicht: Der, der unter die Räder gekommen ist, ist der Nächste den der Samariter lieben muss!, sondern paradox umgekehrt: Der Samariter ist durch die Ereignisse zum Nächsten des Anderen geworden. Es ist Gott, der in solche Zusammenhänge Menschen führt, die "mit ganzem Herzen" um Gottes Nähe ringen, nach ihm rufen und fragen, die es aushalten, dass Gott fern ist, und deren höchste Freude es ist, diesen Gott nahe zu erleben und zu feiern. Menschen die in der Unabsehbarkeit handlungsfähig bleiben, weil sie immer wieder aus der Beziehung zu Gott leben.
    In St. Pauli tun sie dies zusammen mit den Flüchtlingen - und dass unser Papst Franziskus eben dies letzte Woche auf Lampedusa ebenfalls getan hat spricht für ihn und sollte uns nachdenklich machen. Amen.