Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt zum 16. Sonntag im Lesejahr A 2011 (Römerbrief)

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17. Juli 2011 - Kleiner Michel (St. Ansgar), Hamburg

1. Verstehen

  • Einander verstehen ist nicht selbstverständlich. Im Alltag reden wir oft an einander vorbei oder hören erst gar nicht richtig zu. Aber selbst dort, wo wir uns Zeit nehmen und aufmerksam sein wollen, um wirklich einen anderen zu verstehen, merken wir dass es nicht reicht, den Sinn der Wörter zu kennen und die Grammatik eines Satzes zu erfassen. Verstehen ist mehr.
  • Extrem ist der Versuch, jemanden zu verstehen, der schweres Unrecht begangen hat. Kann man einen Tyrannen verstehen? Darf man ihn überhaupt verstehen wollen? Es gibt gute Gründe, sich dem Verstehen zu verschließen bei jemand, der viel Leid und Tod über andere Menschen gebracht hat. Schon bei einem, der mit Perfidie die Menschen seiner Umgebung manipuliert und sie mit psychischer oder sexualisierter Gewalt missbraucht, stellen sich die Fragen nach den Grenzen des Verstehens.
  • Denn Verstehen bedeutet eben nicht nur, sich einem anderen zuzuwenden, sondern auch, in sich selbst einzudringen, sich selbst zu öffnen und in sich selbst nach dem zu suchen, was den anderen zum Klingen bringt. Deswegen kann es Gründe geben, sich bei menschenverachtenden Gewalttätern dem Verstehen zu verweigern.
    Aber bei einem Menschen, den ich mag, achte oder gar liebe, setzt Verstehen das selbe voraus: sich selbst öffnen und vom eigenen Innen heraus das nachvollziehen, was den anderen bewegt, oder dies zumindest zu versuchen, soweit es möglich ist. Denn gerade im Versuch, einen geliebten Menschen zu verstehen, werden wir lernen, dass wir einander als Geheimnis achten müssen. Verstehen hebt dieses Geheimnis nicht auf, sondern vertieft es.

2. Vertreten

  • Dieses Verstehen ist auch das Thema der beiden Verse, die wir als Lesung aus dem Römerbrief gehört haben. Vorangegangen waren in diesem 8.Kapitel die Abschnitte, die an den vergangenen beiden Sonntagen gelesen wurden: Paulus ringt darin um unsere Situation als Menschen, mit der Erfahrung der Vergänglichkeit und der Hoffnung auf die von Gott her kommende Unvergänglichkeit, eine Hoffnung, die uns mit der ganzen Schöpfung verbindet. Von da her kommt er auf das Thema Gebet. Ihn bewegt die Frage, wie wir beten sollen und wie Gott unser Gebet versteht.
  • Man könnte ja denken, dass Gott selbstverständlich alles weiß und versteht. Gott ist allwissend, schließlich hat Gott alles geschaffen. Hier wird jedoch die Erfahrung des biblischen Glaubens deutlich, dass Gott nicht einfach "von oben herab" alles weiß und kennt. Vielmehr will Gott uns Menschen als ein echtes Gegenüber, denn Gott ist nicht der große Manipulierer. Gott ist Liebe. Genauer, Gott ist dreifaltige Liebe. Paulus stößt uns mit der Frage, wie das Beten aus unserer Vergänglichkeit heraus Gott erreicht, in das Zentrum des Glaubens an den dreifaltigen Gott. Er erfährt Gott nicht als den "Immer-schon-alles-Allwisser", sondern als einen, der dem Menschen begegnet und den Weg mit ihm geht.
    Letzteres ist die Grunderfahrung des Volkes Israel. Bei aller Missverständlichkeit dieser Formulierung, könnte man doch in diesem Sinn sagen: Gott ist auf dem Weg des Verstehens uns Menschen gegenüber und führt uns hinein in das Verstehen Gottes.
  • Paulus erfährt im Gebet vor Gott seine eigene Unzulänglichkeit und Vergänglichkeit. Wie kann er damit zu Gott sprechen? "Wir wissen nicht, worum wir in rechter Weise beten sollen." Es geht nicht darum, die richtigen Wort zu finden. Es geht tiefer als alle Sprache. Tief in sich findet Paulus ein "Seufzen, das wir nicht in Worte fassen können". Er vertraut jedoch, dass Gott ihn versteht. Gottes Heiliger Geist, Gottes Gegenwart in uns, "nimmt sich unserer Schwachheit an." So wird Gott, der Heilige Geist, selbst zum 'Übersetzer' unseres Gebetes vor Gott, dem Vater. "Der Geist selber tritt für uns ein". Der Heilige Geist ist unser Vertreter vor Gott. Und mehr noch: So wie Verstehen immer bedeutet, aus dem eigenen Innen heraus nachzuvollziehen, so auch hier: Weil Christus "zur Rechten Gottes sitzt" (Röm 8,34), und damit unsere Menschheit in Gott selbst aufgenommen ist, versteht Gott unser Gebet nicht als etwas Fremdes, sondern als etwas Eigenes.

3. Beten

  • So brauchen wir uns nicht zu sorgen, ob wir "richtig beten". Auch da wo wir keine Worte finden, versteht Gott unser Gebet. Ja, die Worte, mit denen wir beten, sind eigentlich nur Hilfsmittel, um jene Schicht in unserem Herzen zum Klingen zu bringen, aus der das kommt, was Paulus das "Seufzen" nennt, die Sehnsucht nach der Gemeinschaft mit Gott. Die Hilfsmittel sind für uns wichtig und sinnvoll. Sie helfen. Deswegen kann und sollte jeder Christ mutig mit dem Beten experimentieren, um zu sehen, welche Formen des Gebetes jedem einzelnen helfen, das eigene Gebet zur Sprache zu bringen. Die Gebetserfahrungen der Psalmen und aller, die vor uns geglaubt und gebetet haben, sind ein Schatz, auf den wir zurück greifen können. Nur sollen wir uns keine Sorgen machen, ob wir 'richtig beten'. "Denn der Geist selber tritt für uns ein".
  • Ein Weiteres können wir dabei erfahren. Nicht nur Gott versteht unser Gebet, weil er durch die Menschwerdung in sich selbst unsere Erfahrung kennt und nachvollzieht. Durch den Heiligen Geist ist auch umgekehrt Gott in uns. Wir können in uns den Samen der Unsterblichkeit, den Gott selbst in uns gelegt hat, entdecken und so 'Gott verstehen'. Sowohl das Alltägliche hat daher Platz in unserem Beten als auch der Atem der Unendlichkeit, den wir spüren, wenn wir uns als Kinder Gottes begreifen und uns ihm anvertrauen.
  • Ein Letztes sei ergänzt. Wir Menschen stoßen an Grenzen, andere Menschen verstehen zu wollen, die anderen schweres Leid zufügen. Es kann, wie gesagt, gute Gründe geben, sich sogar dem Verstehen zu verweigern. Diese Grenze aber gibt es nicht für Gott. Nichts, auch kein noch so schwarzer Abgrund einer Seele, bleibt seiner Liebe unzugänglich, wo Menschen aus der Tiefe ihrer Seele heraus sich Gott hinhalten. Selbst dort, wo wir uns selbst nicht verstehen, will Gottes Heiliger Geist uns zum Leben führen und tritt der Heilige Geist für uns ein. An den kommenden Sonntagen werden wir dazu die nächsten Abschnitte aus dem Römerbrief als Lesung hören. Amen.