Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt 2. Adventssonntag Lesejahr A 2022 (Jesaja)

Zurück zur Übersicht von: 2. Advent Lesejahr A

4. Dezember 2022 - St. Margareta, Adendorf

"Wo warst du, als ich die Erde gegründet?" Unter dieses Hiob-Zitat hat Terrence Malick 2011 seinen Film "The Tree of Life" gestellt. Die - in der Langfassung - drei Stunden sind eine Meditation darüber und erzählen hineingewoben in ein Leben, das von Verlust und Schmerz betroffen ist, eine filmische Reise durch die Schöpfungsgeschichte, nicht in sechs Tagen, sondern in den unbegreiflichen Zeiten. Das Motiv, mit dem die Predigt beginnt, ist dem Film ebenso entnommen wir der Grundton der Gedanken.

1. Tyrannosaurus Rex

  • Am 3. Oktober im Jahr 67.345.212 vor Christi Geburt jagte um 16.15 Uhr in der Wildnis der Sangre de Cristo Mountains (in den Rocky Mountains im Norden New Mexicos) ein Tyrannosaurus Rex einen jungen Leguanzahn (ein Dinosaurier, wie sie damals auf der Erde lebten).
    Ein ungleicher Kampf. Schnell hatte der T-Rex den Kleinen unter seinen Klauen. Fast, wie wir es von einer Katze kennen, die mit der Maus spielt, die sie gefangen hat, scheint auch der T-Rex den jungen Leguanzahn noch einen Augenblick am Leben zu lassen. Doch dann geschah das Erstaunliche: Der T-Rex sieht sein Opfer an – und verschont es. Er zerreißt ihn nicht mit seinen Zähnen, er lässt ihn am Leben und von dannen ziehn. Der Leguanzahn kommt mit dem Schrecken davon.
  • Ob das genau um 16.15 Uhr passiert ist? Da will ich mich nicht festlegen. Aber ich bin mir sicher, dass diese Geschichte eine tiefe Wahrheit enthält. Es gibt dieses Wunder. Die Welt ist nicht nur das große "Fressen und Gefressen-Werden". Die Schöpfung hat nicht nur Gesetze, nach denen alles untergeht. Die Geschichte ist nicht ewig dieselbe von Krieg und Zerstörung.
  • Nein. Es ist Gottes Schöpfung. Ihr wohnt zutiefst die Barmherzigkeit inne. – Ich war nicht dabei, als Gott die Welt geschaffen hat. Ich würde gerne wissen, warum es das Leid und den Tod gibt. Aber ich weiß, dass Gott in seine Schöpfung – wie einen Keim – die Liebe, die Barmherzigkeit und den Frieden gelegt hat. Wie im toten Unterholz im Wald, so kann aus dieser Welt ein Grün aufwachsen, lebendig und mit Früchten der Lebendigkeit.

2. Ein Garten

  • Die Bibel beginnt mit der Überzeugung, dass die Welt gut ist, wie Gott sie geschaffen hat. Der Text in der Bibel, der vom Paradies am Anfang der Zeiten singt, ist eigentlich ganz kurz. Ein Garten sei es, den Gott angelegt hat. Ein Garten, in dem gut zu leben ist, und in dem Gott im Abendwind spazierengeht. Auch die Tiere, so kann man dort lesen, haben nur Pflanzen zur Nahrung. Raubtiere passen nicht in Gottes Paradiesgarten.
  • Es ist anders gekommen. Die Welt, wie wir sie kennen, ist anders. Die Natur hat Gesetze und die sind nicht nur friedlich. In den beliebten Tierfilmen aus dem Hause Disney wird das meist verheimlicht. Das Werden des Universums und unserer Welt ist auch die Geschichte von Tod und Zerstörung. Die Dinosaurier haben das allesamt erlebt.
  • Und doch lässt Gott den Propheten Jesaja eine andere Welt sehen. Es ist eine phantastische, eine neue Welt. Doch zugleich ähnelt sie dem Garten am Anfang. Die Neue Schöpfung knüpft an Gottes gute Schöpfung an. Löwe und Rind, Raubtier und kleines Kind, sie sind in dieser Welt nicht länger Feinde.

3. Der Tag

  • Das alles ist nicht abstrakt. Jesaja verortet es in der Geschichte. Es ist nicht das Jahr 67.345.212 vor Christi Geburt. So weit geht Jesaja nicht zurück. Es ist "ein Reis" aus dem "Baumstumpf Ísaïs". Dieser Baumstumpf, der übrig geblieben ist, nachdem der Sturm den Baum gefällt hatte. "Ísaïs" ist als der Name des Vaters von König David überliefert. Ein "Reis", also ein grünes Zweiglein, wächst aus diesem Baumstumpf hervor: Aus diesem Volk, aus dieser Geschichte heraus, aus dem, was wir sind und was wir kennen, entsteht das Alt-Neue des Friedens. "Es ist ein Ros (ein Reis) entsprungen aus einer Wurzel zart."
  • Die Christen haben in Jesus diesen Zeig aus dem Stamm "Ísaïs" gesehen; er ist "Sohn Davids". Diese Welt kann Gott selbst hervorbringen. Dies geschieht dort, wo ein Mensch sein "Ja" spricht, wie es Maria getan hat. Dieses einfache "Ja" durchbricht das Gesetz von Krieg und Feindschaft.
  • Es ist eine Erinnerung an den Ursprung und das Ziel dieser Welt, die Wirklichkeit werden kann. Daran halten wir fest, wenn wir Advent feiern. Denn Advent und Weihnachten sind nicht einfach nur Erinnerung an das Vergangene. Wir vertrösten uns auch nicht lediglich auf ein Himmelreich, irgendwann im Jenseits – auch wenn dieses Reich Gottes Verheißung ist und kein billiger Trost. Vielmehr erleben wir, dass Menschen von Gottes Geist erfüllt das Paradies leben können. Der "Geist der Weisheit und der Einsicht, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des Herrn" kann das bewirken, dass der Ungerechtigkeit das Recht, der Bevorzugung der Reichen die Sorge um die Armen entgegentritt.
    Genau so hat das Jesaja gesehen. Dies ist Realität auch angesichts der furchtbaren Kriege. Auch angesichts der Zerstörung, die unser Energiehunger über den Planeten gebracht hat, halten wir daran fest, dass es dieses Andere gibt. Wenn ein Tyrannosaurus Rex Barmherzigkeit zeigen kann – könnte das uns mit Gottes Hilfe auch gelingen.