Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt zum 2. Sonntag im Lesejahr A 2017 (Johannes)

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15. Januar 2017 - Kleiner Michel (St. Ansgar), Hamburg

1. Agnus Dei

  • In jeder Messe beten wir das Agnus Dei: "Lamm Gottes, du nimmst hinweg die Sünde der Welt: erbarme dich unser - gib uns deinen Frieden." Das Gebet stammt aus dem heutigen Evangelium. Es wird als Begleitgebet oder besser noch als Lied gesungen, während der Priester das heilige Brot in Stücke bricht. Je nachdem, wie lange das dauert, kann das Lied länger oder kürzer sein. Das Brot wird gebrochen und die Gemeinde interpretiert das, was da geschieht, mit dem Lied: "Lamm Gottes, du nimmst hinweg die Sünde der Welt". Aber was ist damit gemeint?
  • Wir verwenden in der Liturgie, der Gestaltung unserer Gottesdienste viele Symbole und Bilder. Manche davon versteht jeder mehr oder weniger sofort. Andere sind verschlüsselt, nicht nur weil es ein besonderes Wissen braucht, um es im Kopf zu verstehen, sondern auch weil es eine Lebenshaltung und Lebenspraxis braucht, um in einem ständigen Prozess es auch im Herzen zu erfassen - oder zumindest zu berühren.
  • Es gab Zeiten, da meinte man, alles in der Messe müsse klar und für jedermann sofort nachvollziehbar sein. Aber das war weder am Anfang der Christenheit so, noch würde ich dem auch sonst zustimmen. Ich bin vielmehr der festen Überzeugung, dass es der gemeinten Realität manchmal angemessener ist, wenn ich nicht mit schnell zu konsumierenden Antworten abgespeist werde, sondern es Zeit braucht, um in die Wirklichkeit hinein zu wachsen, die mit den Worten und Zeichen des Gottesdienstes ausgedrückt wird. Nur dann übrigens werden Gottesdienste nicht langweilig und muss man sich nicht ständig etwas einfallen lassen, um sie interessant zu machen. Dort wo Gottes Wirklichkeit durch unsere Zeichen und Worte berührt wird, bleibt es auch so spannend.

2. Das Lamm

  • "Seht, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinweg nimmt." Das Johannesevangelium hilft uns, das was in den anderen Evangelien erinnert wird, vertieft zu verstehen. Dort wird geschildert, dass Jesus zu Johannes, dem Täufer an den Jordan kommt. Dort vollzieht dieser eine rituelle Taufe im Wasser des als Zeichen der Erneuerung des Lebens, der Umkehr und der Reue.
  • Wenn Johannes nun von Jesus sagt, er sei "das Lamm", dann kann jeder von uns dieses Bild erst einmal ganz unmittelbar verstehen: Wer einmal ein Lamm erlebt hat, versteht sofort, warum dieses Tier ein besonderes Bild für eine Unschuld ist. Zugleich wirkt so ein Lamm verletzlich. Auch das passt in das Bild. Und dass Jesus Lamm "Gottes" genannt wird, macht deutlich, dass dieses Lamm von Gott kommt und ganz für Gottes Gegenwart steht.
  • Wenn ich mir nun ganz konkret dieses Lamm vorstelle, das sich unter die Menschen einreiht, die zum Jordan kommen, um ihre Schuld einzugestehen und die Taufe zur Umkehr der Sünden zu bekennen: Dann ist dieses Bild deutlicher als abstrakte Theologie. Gottes Gesalbter, Gottes Gegenwart unter uns, ist zutraulich gegenüber den Menschen, wehrlos und verletzlich. Obwohl er unter allen ohne Schuld ist, reiht er sich unter die Menschen ein, die schuldig geworden sind. Darüber haben sich im Laufe der Zeit (schon im Neuen Testament) andere Bilder gelegt, vor allem das Bild des Opferlammes aus der Liturgie von Ostern. Aber das ganz einfache Bild des Lammes ist auch dafür die Grundlage.

3. Es nimmt hinweg die Sünden

  • Wie aber nimmt das Lamm Sünde weg? Das ist im Grunde das große Thema der ganzen Bibel. Wie kann Gott bewirken, dass die Last von Schuld, Ungerechtigkeit und Hass von uns genommen wird?
    Ein Teil der Antwort ist das Bild des Lammes. Gott nimmt die Sünde weg, indem er sie erträgt. Tragen, wegtragen, ertragen, das hängt ganz eng zusammen. Gott möchte das Belastende selbst ertragen und nicht nur aus der Ferne beobachten. Indem er sich wehrlos macht wie ein Lamm, trägt er die Sünde. In der lateinischen Fassung des Agnus Dei heißt es: "qui tollis peccata mundi". In "tollis" steckt das Wort Toleranz, das nicht meint, alles gut zu heißen und egal sein zu lassen, sondern die Bereitschaft, das Andere an sich heran zu lassen, es zu wandeln, indem es ertragen wird, auch wo es schwer fällt.
  • Das ist naiv. Wir glauben daran, dass das Gute ansteckend ist, wie es nach der Lehre von der Erbsünde auch das Böse ist. Wir glauben daran, dass das Gute mächtiger ist, weil es auf die Waffen verzichten kann, mit der das Böse kämpft. Wir glauben, dass das Böse seiner eigenen Realität immer wieder ausweicht und daher immer auch Lüge ist. Wir glauben, dass das Gute machtvoll gegenwärtig ist, allein durch die Wahrheit der Liebe - durch das Lamm.
  • Eine letzte Bemerkung: Der Täufer Johannes sagt von Jesus, dem Knecht Gottes: Er trägt die Sünde der Welt - im Singular also "die Sünde". Das öffnet das Geschehen für alle Menschen. Denn so wie der Adam, "der Mensch" schuldig wurde, weil er sein wollte wie Gott, trägt der Gottesknecht "die Sünde" und offenbart damit, dass Gott, dass Gott nicht so ist wie die Sünde meint, die sich selbst zu Gott und über alle erheben will.
    In der lateinischen Liturgie aber (und mit ihr etwa im Englischen oder Italienischen) steht der Plural: "qui tollis peccata mundi", heißt "der du trägst die Sünden der Welt". Hier wird deutlich, dass Gott nicht nur grundsätzlich "Sünde" trägt, sondern "die Sünden". Genau genommen sind es die Sünden, ist es all das Schmerzliche, die Gewalt und die sündhaften Strukturen im Volk Gottes, unter den Christen, in der Kirche. Dadurch, dass Gott uns seine Treue zugesagt hat, hat er auch in besonderer Weise zugesagt, diese Schuld zu tragen. Gott wird haftbar gemacht und lässt sich haftbar machen für das, was Menschen in seinem Namen tun. Nicht weil er es gut heißt, sondern weil Gottes Liebe hier sich erweist: Indem er an deiner Seite und mit dir geht. Nicht zufällig daher beten wir diese Worte an der Stelle, wo uns Christus im persönlichen Segen und im Sakrament des Altares besonders nahe ist: Gott ist Dir nahe und will tragen, was sonst dein Leben zerstört, "die Sünde der Welt". Das Lamm lässt sich buchstäblich brechen, damit aus der Gebrochenheit die Einheit wird, Brot für das Leben der Welt

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Hinweis:

Indirekt verdanken wir das "Agnus Dei" möglicherweise dem Islam. In der Liturgie des Ostens hatte man schon früh das Brechen des Brotes mit dem Leiden und Sterben Christi in Verbindung gebracht. Dabei wurde das Bild vom Lamm, das geschlachtet wird, aus der Offenbarung des Johannes (Offb 5.6) auf das Brot übertragen, das in der Messe gebrochen wird. Möglicherweise mit syrischen Klerikern, die vor dem vordringenden Islam nach Rom geflohen sind, breitete sich dieser Brauch auch in der westlichen Kirche aus. Da Brotbrechen der häufigste biblische Name für die Eucharistie ist, bekommt der Vorgang im Ablauf der Messe einen eigenen Ort (nicht nebenbei bei der Wandlung), wird durch den Gesang der Gemeinde begleitet, die dadurch deutet, was der Priester am Altar vollzieht. Dass zumindest einige gebrochene Teile des Brotes mit ausgeteilt werden, gehört zu den Vollzügen, die die römische Liturgie für besonders wichtig hält (Instruktion Redemptionis Sacramentum, 2004, Nr. 173/49)