Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt zum 27. Sonntag im Lesejahr A 2002 (Matthäus)

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6. Oktober 2002 - Universitätsgottesdienst, St. Ignatius Frankfurt

1. Das Reich Gottes und das Volk

  • Wenn Jesus den Hohenpriestern und Ältesten das Gleichnis vom Weinberg erzählt, dann denken diese zuerst an die Lesung, die wir gehört haben: Beim Propheten Jesaja ist der Weinberg ein Gleichnis für Israel selbst, das Gott, der Winzer, pflegt und hegt. Dann aber kommen die Ältesten durcheinander. Jesus dreht das Gleichnis. Es handelt von Pächtern, von Menschen, denen der Weinberg übertragen wurde, ohne dass der Herr des Weinbergs darauf verzichten würde, seinen ihn zustehenden Anteil zu fordern. Den aber verweigern die Pächter. Die Knechte des Herrn verprügeln sie, den Sohn ermorden sie. Das Gleichnis hat sich vom Weinberg gewendet hin zu den Hütern des Weinbergs, die versagen. Dann aber dreht Jesus den Gedanken doch wieder von den Hütern hin zum ganzen Volk: "Das Reich Gottes wird euch weggenommen und einem Volk gegeben werden, das die erwarteten Früchte bringt."
  • Dieser letzte Satz aus dem heutigen Evangelium steht in unheilvoller Tradition. Das Reich Gottes wird weggenommen und einem anderen Volk gegeben, ist ein keineswegs harmloser Satz. Er entzieht dem Volk Israel den Boden. Matthäus konnte nicht wissen, dass durch viele Jahrhunderte Christen diesen Satz (und mehr noch ähnliche Sätze) auf das blutigste gegen sein, Jesu, Volk wenden würden. In der Judenverfolgung fühlten sich Christen als das neue Volk, dem das Reich gegeben worden sei. Und nun gingen sie gegen die angeblichen Heilandsmörder immer wieder mit Pogromen vor. Diese Interpretation hat zwar die Heilige Schrift und die theologischen Wurzeln der Kirche gegen sich. Die historische Realität aber war eine andere. (Vgl. die Predigt zu Mt 15,21-28)
  • Wenn die Frage der Erwähltheit oder Verworfenheit des Volkes Gottes so viel Unheil gebracht hat, sollte man sie nicht lieber auf sich beruhen lassen? Auf keinen Fall! Erstens wäre das nach der physischen die Ideologische Eliminierung des Judentums. Jesus war und verstand sich als Jude, und die Kirche kann nur aus ihren jüdischen Wurzeln verstanden werden. Das Bundesbuch unseres Glaubens ist die Bibel, und die ist in diesem Punkt in allen ihren Teilen eindeutig. Zweitens aber ist es kurzsichtig zu meinen, weil für uns in Deutschland die Rede vom "Volk" und vom "Volk Gottes" fremd ist, hätte sie für das Christentum keine Bedeutung. Vielmehr lohnt es sich zu sehen, ob wir auf dem Hintergrund des Evangeliums nicht manche Phänomene erst verstehen lernen und auch nur auf diesem Hintergrund eine kritische Position dazu beziehen können.

2. USA

  • Die Rede ist von den USA, den Vereinigten Staaten von Amerika. In Deutschland und in vielen westeuropäischen Ländern dämmert es den Intelektuellen erst ganz langsam, dass das sozilogische Dogma unhaltbar ist, Modernisierung sei gleichbedeutend mit Säkularisierung und Abschied von der Religion. Das Dogma hatte auch bisher bestenfalls für die westliche Hälfte des kleinsten Kontinents der Erde gegolten. Für den Rest der Welt sicher nicht. Vor allem nicht für das Land, das seit dem letzten Jahrhundert der eigentliche Träger der gesellschaftlichen und ökonomischen Modernisierung ist, den USA.
  • Manche Diktatoren fühlen sich von Gott auserwählt. Aber kaum eine Nation dieser Welt hat die Erwählung durch Gott als ganze Nation so verinnerlicht wie die USA. Nur eine Nation, die nicht aus der Tiefe ihrer Geschichte kommt, sondern sich selbst gegründet hat auf Überzeugungen, konnte die biblische Rede vom Volk Gottes so auf sich beziehen wie die USA. Während aber für Israel der Glaube "Volk Gottes" zu sein in der Bibel immer wieder mit dem Versagen des Volkes und seiner Führer kontrastiert wird, scheinen die USA in ihrem Glauben an sich selbst ungebrochen. Der damalige Präsident Ronald Reagan hat das so formuliert: "Können wir zweifeln, dass nur eine göttliche Vorsehung dieses Land, diese Insel der Freiheit, hier geschaffen hat?"(1)
  • Die Vereinigten Staaten wurden von einer Gruppe religiöser Puritaner gegründet, die der britischen Herrschaft entfliehen wollten, um ihren religiösen Vorstellungen gemäß zu leben. Die Nation begann mit einem Exodus, von Gott geführt. Der Puritanismus, ein, wie sie sich selbst verstanden, rein nur auf die Bibel gegründeter Glaube, lehnte alle menschliche Herrschaft ab und wollte sich nur der Herrschaft Gottes unterwerfen. Gott aber ist absolut und unergründlich. So steht der Glaube an der Wiege der USA, dass das Schicksal des Menschen von Gott vorherbestimmt sei und durch keine Glaubensleistung beeinflusst werden könne. In God we Trust ist seit 1956 der Wahlspruch des Landes und er steht auf jeder Dollarnote.

3. Erwählt oder verworfen

  • Bis heute ist das religiöse Selbstverständnis prägend. Die radikale Trennung von Staat und Kirche darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die USA - seit Jahren wieder in steigendem Maße - Politik und Religion eng mit einander verbinden. Wie aber wird das konkret? Wenn Gott absolut ist und über unser Schicksal bestimmt, woran können wir sehen, ob Gott uns liebt? Die Antwort des Puritanismus war: Im Erfolg. Der Erfolg im Wirtschaftlichen ist Erweis der Erwähltheit - und zugleich Auftrag und Sendung, die Prinzipien, die diesen Erfolg möglich machen, in die Welt zu tragen.
  • Wenn wir den Satz aus dem heutigen Evangelium vor dem Hintergrund dieses hier grob umrissenen religiösen Selbstverständnisses lesen, merken wir, welche bedrohliche Kraft in ihm steckt: "Das Reich Gottes wird euch weggenommen und einem Volk gegeben werden, das die erwarteten Früchte bringt." Die paradoxen Extreme, die Europäer an den USA immer wieder erstaunen und erschrecken, werden von hier her verständlich. Ein Land das schwangt zwischen nationalbegeistertem missionarischem Geist und abgrundtiefen Selbstzweifeln. Die Wirtschaftskrise und der Zweite Weltkrieg, Vietnam und heute der Kampf gegen "das Böse" in Gestalt des islamistischen Terrorismus, immer geht es darum, ob sich die Erwähltheit am Erfolg ablesen lässt, der die Nation zum Mitstreiter Gottes macht, oder ob das Land von Gott verstoßen ist.
  • So verschieden unser westeuropäisches oder gar deutsches Verständnis von Religion ist, vielleicht bringt uns der Blick auf das "Volk Gottes" USA die Situation des Evangeliums näher. Denn Jesus spricht zu Menschen, die Gott in der Tat auserwählt hat. Ganz in der Tradition des Alten Testamentes aber weist Jesus darauf hin, dass diese Erwählung Auftrag ist und nicht sicherer Besitz. Gott will uns seinen Weinberg anvertrauen, nicht zu unserem Besitz, sondern damit wir Frucht bringen. Jesus selbst, sein Evangelium, ist schließlich der Eckstein, der kritische Maßstab, an dem allein sich entscheidet, ob wir das Angebot Gottes ausschlagen oder annehmen. Amen.

Anmerkung:

1. Fernsehansprache am 14.9.1986