Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt zum 30. Sonntag im Lesejahr A 2014 (Exodus)

Zurück zur Übersicht von: 30. Sonntag Lesejahr A

23. Oktober 2014 - Kleiner Michel (St. Ansgar), Hamburg

1. Auf die Probe gestellt

  • Die Versuchung ist offensichtlich die, sich entweder in der Vielzahl von Regeln und Geboten zu verheddern oder aber gleich alle Gebote und Regeln über Bord zu werfen. Die Pharisäer meinen daher Jesus mit ihrer Frage aufs Glatteis zu führen. Aber Jesus ist sehr klar. Es gibt die Gebote und Regeln, ja, aber sie haben eine Mitte. Ohne diese Mitte wären diese Gebote hohl, diese Mitte ohne etwas drum herum jedoch wäre nackt und letztlich unverbindlich.
  • Dabei ist Jesus nicht originell. Er spricht einfach nur aus, was der Glaube Israels ist. Jeder Jude erkennt sofort, dass Jesus mit seiner Antwort die Bibel zitiert. Es sind die Worte, in denen Gott gegenwärtig ist, der Israel aus der Knechtschaft des Pharao befreit hat. Nicht Originalität ist hier gefragt sondern das Gedächtnis an Gottes Handeln und Treue.
  • Darin liegt für Christen auch der Bezug zur Taufe. Denn durch dieses Sakrament sind wir in die Gedächtnisgemeinschaft des Gottesvolkes Israel hinein genommen worden. Jeder Augenblick in meinem Leben und jeder Augenblick in der Gemeinschaft der Getauften kann zum Gedächtnisort werden, wenn ich erfahre, dass ich von Gottes Treue und Liebe getragen bin, und mich diese Erfahrung befähigt, Liebe zu schenken. Die Gebote des biblischen Gesetzes haben, anders gesagt, ihr Fundament in der Erfahrung der doppelten Gemeinschaft des Glaubens - der Gemeinschaft mit Gott und der dadurch ermöglichten Gemeinschaft unter einander.
    Die Lesung aus dem Buch Exodus ist sehr gut geeignet, das deutlich zu machen: Erstens: Liebe hat mit Erfahrung zu tun, und zweitens: Gott ist im Verhältnis der Menschen zu einander kein unbeteiligter Aussenseiter.

2. Eigene Erfahrung als Fremde

  • Zunächst ist da das Verbot, Fremde auszubeuten. Es dürfte nicht schwer fallen, aktuelle Bezüge zu finden. Als Fremder gilt hier jeder, der keine oder wenig Rechte hat. Als Fremder gilt, wer sich nicht auskennt und die Sprache nicht spricht.Als Fremder gilt, wer keinen Pass hat, der ihn als Zugehörigen ausweist.
    Die Regel des biblischen Gebots ist ganz einfach: Der Maßstab unseres Handelns darf nicht sein, ob wir faktisch die Macht haben, Andere für unsere Zwecke auszunutzen. Gegen diese faktische Realität setzt die Bibel die erinnerte Realität: "denn ihr selbst seid in Ägypten Fremde gewesen". Die Grundbegabung, aus eigener Erinnerung mitfühlen zu können, ist die entscheidende Waffe gegen die Versuchung, die eigene Überlegenheit zu missbrauchen, indem ich Andere meinen Zwecken und Interessen unterwerfe.
  • Was aber ist daran eigene Erinnerung? Keiner von denen, denen seit frühester Zeit die Bibel verkündet wurde, war selbst dabei, als die Nachfahren der zwölf Söhne Jakobs in Ägypten als Sklaven ausgebeutet wurden. Aber durch die Zugehörigkeit zum Volk Gottes - für uns zur Kirche - wird diese Geschichte zu meiner Geschichte. Vor allem in der Feier des Gottesdienstes höre ich nicht nur, was irgendwann einmal geschehen ist. Vielmehr lasse ich mich in das erinnerte Geschehen hinein nehmen.
  • Und genau das hat auch Gott getan. Weil in Jesus Christus Gott selbst Mensch wurde, nimmt er, der ewige und allmächtige Gott, selbst Anteil an unserer Menschengeschichte. Gottes Liebe bringt ihn dazu, das zu tun, sogar da, wo er auf die gewalttätige Ablehnung der Menschen trifft. Es ist die Liebe Gottes, die sich an den von Menschen Abgelehnten, Ausgenutzten und Missbrauchten erweist.
    Hier liegt auch ein tiefer Sinn, warum wir von der Kirche als dem "Leib Christi " sprechen dürfen. In den ausgebeuteten und missbrauchten Menschen des Volkes Gottes ist Christus in besonderer Weise gegenwärtig. Die Opfer der Gewalt unter uns sind in einem viel tieferen und wahreren Sinn Kirche, als es die sind, die als Priester, Bischöfe und Oberen Gewalt ausüben oder ihr nicht entgegen treten.

3. Perspektive Gottes

  • Letztlich geht es bei den Geboten und Gesetzen der Bibel darum, einen Wechsel der Perspektive vorzunehmen, indem wir die Perspektive Gottes einnehmen. Die Perspektive Gottes aber ist die der Armen ohne Recht und Einfluss, das weiß schon das ganze Alte Testament; das wird unmissverständlich deutlich durch die Menschwerdung Gottes im Viehstall von Betlehem und durch den Tod seines Gesalbten in der Verachtung des Kreuzes.
  • Mit alter Deutlichkeit, zu der die Bibel fähig ist, wird in dem kurzen Abschnitt, den wir gehört haben, daher auch vom Zorn Gottes gesprochen. Denn es ist hier ganz deutlich, dass dies ein Zorn aus Barmherzigkeit ist - im Anblick der Gewalt, die den rechtlosen Witwen, Waisen und Fremden angetan wird. "Ihr sollt keine Witwe oder Waise ausnützen. Wenn du sie ausnützt und sie zu mir schreit, werde ich auf ihren Klageschrei hören. Mein Zorn wird entbrennen."
  • Diesen Gott zu lieben, "mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken" hat daher zur unmittelbaren Folge, dass ich fähig werde, die Perspektive besonders der Ärmsten unter meinen Nächsten einzunehmen. Dies ist dort wichtig, wo ich versucht bin, andere nur danach zu beurteilen, wie ich sie mir zu nutze machen kann.
    Gott aber zeichnet sich gerade dadurch aus, dass er nicht 'benutzbar' ist. Jeder Versuch schon, verhärtet mein Herz gegen diesem Gott, der hoch erhaben ist. Sich hingegen auf das Wagnis der Liebe Gottes einzulassen - jeden Tag etwas mehr -, gibt meinem Leben den Sinn, der das Leben lohnt. Amen.