Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt zum 31. Sonntag im Lesejahr A 1996 (1 Thess)

Zurück zur Übersicht von: 31. Sonntag Lesejahr A

3. November 1996 - Kleiner Michel (St. Ansgar), HamburgKollegskirche Sankt Georgen, Frankfurt/Main

1. Moral

  • Mit großen Lettern titelte die Münchner Abendpost Nachtausgabe: "Ein nackter Kanzler regt keinen mehr auf". Berichtet wurde über eine Umfrage, wonach die Deutschen ihre Ansprüche an das Privatleben von Politikern, Show-Stars und Sportlern herunterschrauben. Nur wenn Politiker Steuern hinterziehen, findet sich noch eine Mehrheit (65%), die das anstößig findet.
  • Diejenigen aber, die zuständig sind, die Moral im Land hochzuhalten, die ihren Finger legen auf Missstände und nicht schweigen dürfen, wenn es gilt Unrecht anzuklagen: diese Gruppe erfreut sich des Umstandes, dass niemand etwas über ihr Privatleben weiß, dass keiner nach ihren persönlichen Standards fragt, dass sie Moral verkünden können ohne sie leben zu müssen: Die Journalisten.
  • Esoterische Bücher und gedruckte Lebensweisheit in den Regalen der Buchhandlung können sich das ebenfalls erlauben, über alles und jedes zu richten, ohne selbst offenlegen zu müssen, vor dem Publikum und der Geschichte, wie es denn letztlich um die eigene Glaubwürdigkeit steht.

2. Gottes Skandale

  • Für die Kirche wäre das verlockend, endlich die Last der Geschichte und die ewige Bemäkelung der eigenen Wirklichkeit abwerfen zu können. Wie angenehm ist das Leben eines Journalisten, der über alles schreiben darf, ohne selbst je ins Rampenlicht treten zu müssen. Nicht aber eine Kirche, die die Botschaft Christi verkünden soll. Es liegt im Kern der christlichen Botschaft, dass sie immer auch den fordert und einbezieht, der sie verkündet.
  • Gott selbst spricht nicht primär zu den Menschen; noch weniger schreibt Gott Bücher und stellt sie ins Schaufenster. Vielmehr handelt Gott. Gottes Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt. Das bekennen heißt, Gott in unserem Leben und in unserer Geschichte gegenwärtig wissen, fordernd und handelnd. Aus dieser Nähe Gottes zu uns folgt für uns alles übrige.
  • Aus dem Zusammenhang unser Jesuitenkommunitäten kenne ich das Problem auf eigene Weise und sehr persönlich.
    Es gibt da immer die Sehnsucht, sich zurückzuziehen, einen Binnenraum der Mitbrüderlichkeit zu schaffen, wo man seine Ruhe hat. Kein Zweifel, dass wir Jesuiten mehr Sorgfalt auf die Gestaltung unseres Zusammenlebens verwenden müssen. Es ist aber genauso deutlich, dass Ordensleute, Jesuiten zumal, sich nicht aus der Öffentlichkeit zurückziehen dürfen, nicht die heute übliche Trennung von privat und öffentlich, von Arbeit und Freizeit kritiklos mitmachen dürfen. Deswegen haben wir unsere Kommunitäten mitten auf dem Campus unserer Schulen und Hochschulen, wo wir Tag für Tag gesehen, angefragt und hinterfragt werden können.
    Wir kennen in der Kirche etwas Anstößiges und Unerhörtes, das heute kaum noch zu vermitteln ist - und doch viele anzieht: Wir kennen die bewusste Entscheidung zur öffentlichen Lebensform: das öffentliche Eheversprechen, das öffentliche Gehorsamsversprechen, Weihe und Gelübde.
  • Die Ordensgelübde und die Priesterweihe sind also in diesem Zusammenhang zu sehen. In ihnen ist ganz klar zwischen dem Anspruch der Öffentlichkeit - vor Gottes, der Heiligen und der Kirche Angesicht - und der defizitären Verwirklichung unterschieden. Im Wissen darum, dass unser Leben nicht von unserem Erfolg sondern von der Zusage Gottes getragen ist, können Menschen sich dem Anspruch stellen.
    Genauso ist das für mich auch der bedeutendster Moment bei der Trauung: Die beiden sprechen vor allen Anwesenden ihr Bundeswort, dann werden die Hände der beiden von der Stola umschlungen und wird die ganze Gemeinde zu Zeugen aufgerufen. Die christliche Ehe ist daher nie privat, sondern immer öffentlich.

3. Priester-Skandale

  • Es sind jedoch die Priester, die heute in der Lesung und im Evangelium die Leviten gelesen bekommen. Weil sie von der Ordnung der Kirche her öffentlich leben, ist ihr Versagen besonders sichtbar. Davon können sie sich nicht entschuldigen, es ist Teil ihres Dienstes: weil so noch einmal auf Gott verwiesen wird.
  • Paulus hebt daher auch seine eigene Lebensform als wichtigen Teil seiner Verkündigung gegenüber der Gemeinde hervor: Wie eine Mutter wollte er sein:
    Wie eine Mutter für ihre Kinder sorgt,
    so waren wir euch zugetan
    und wollten euch nicht nur am Evangelium Gottes teilhaben lassen,
    sondern auch an unserem eigenen Leben;
    denn ihr wart uns sehr lieb geworden.

    Dadurch konnte Paulus die Gemeinde auch - wie ein Vater - ermahnen und ermutigen. An diesem Maßstab muss sich jeder, der oder die das Evangelium verkündet, messen. Dies ist aber immer auch Dienst und Tun der ganzen Kirche, die nur gegen ihre Sendung hinter verschlossenen Türen bleiben könnte.
  • Unsere Sendung als Kirche ist es, uns auszusetzen der Öffentlichkeit dieser Welt, in der Gott offenbar wird. Er wird es aber nicht durch unsere strahlende Heiligkeit, sondern trotz unserer Mangelhaftigkeit durch unsere Bereitschaft, mit unseren zittrigen Händen das Kreuz zu halten und es zu zeigen. Amen.