Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt zum 33. Sonntag im Lesejahr B 2000 (Markus)

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12. November 2000 - khg Göttingen, Universitätskirche St. Nikolai

1. Unter dem Firnis

  • Eine strahlend moderne Seilbahn fährt auf dem Weg nach oben in einen langen, völlig dunklen Tunnel ein. Womöglich schon bevor der Tunnel beginnt, merken einige Passagiere, dass Rauch aus dem hintersten Wagen kommt. Die vorne sitzen und der Zugführer merken noch nichts. So fährt die Bahn in die Dunkelheit und der Rauch wird zum Feuer, das hundertfünfzig Menschen das Leben kostet. Nur ganz Wenige entkommen der Katastrophe.
    Wieder sind es Bilder aus dem Fernsehen, die uns schocken. Diejenigen, die vor Ort sind, um zu helfen oder zumindest die Leichen zu bergen brauchen psychologischen Beistand. Nach einigen Stunden Arbeit müssen sie abgelöst werden, weil der Schrecken sie sonst mit sich in die Tiefe zieht.
    Trotz allem, der Zug nach oben ist doch das Weltbild von dem wir leben. Rückschläge wird es geben, Kurseinbrüche. Aber wer langfristig investiert, werde doch am Ende zu den Gewinnern gehören. Die finstren Zeiten mit Krieg und Barbarei bleiben gebannt in die Geschichtsbücher und Kinofilme.
  • Das ist ein Optimismus, der für eine Generation und ein Land verständlich ist, das seit fünfzig Jahren keinen Krieg erleiden musste und seit fünfzig Jahren sich wirtschaftlich immer nach oben entwickelt hat, trotz kleinerer Rückschläge. Die Redeweise: "Dass es so etwas heute noch gibt!" markiert das Erstaunen, wenn es einzelne Ausbrüche aus dem allgemeinen Geleitzug in die Zukunft gibt.
    Was wird denn in Deutschland passieren, wenn das nicht mehr so weiter geht? Wir haben in unserer Bundesrepublik keinerlei Erfahrung, wie ein Rückschritt zu verarbeiten ist. Was würde passieren, wenn der allgemeine und individuelle Wohlstand auf das Niveau von - sagen wir - 1980 zurück fällt, weil die technische Entwicklung den Verbrauch an Ressourcen doch nicht kompensieren kann? Ich kann mich nicht erinnern, dass 1980 die Deutschen hungernd und frierend durch die Straßen gezogen sind. Dennoch reicht es sich vorzustellen, dass die 20% Wohlstandsgewinn seit damals aufgebraucht würden, um ein Schreckensszenario vor Augen zu haben, in dem unsere politische und soziale Ordnung zusammenbricht, weil sie Konflikte nicht mehr durch Zuwachs besänftigen kann.
    Ich bin kein Prophet. Ich weiß nicht was kommt. Wahrscheinlich bin auch ich ein unverbesserlicher Optimist. Aber heute, angesichts des Evangeliums das wir gehört haben, will ich doch einmal die hypothetische Frage an mich heran lassen, was passiert, wenn der Optimismus trügt.
  • Wir alle weichen dem Schrecken instinktiv aus, indem wir uns für etwas Besseres halten. Die unendliche Grausamkeit der ethnischen Kriege am Balkan sind für uns - zum Glück! - unvorstellbar. Voll Grausen sehen wir die Menschheitsverbrecher im Den Haager Gerichtssaal. Nur dass wir besser nicht so genau hinschauen, um nicht die Normalität in den Gesichtern zu sehen.
    Der Krieg am Balkan ist kein historisches Fatum, keine Notwendigkeit; davon bin ich überzeugt. Die Menschen dort sind per se keine größeren Nationalisten, keine verblendeteren Ideologen als wir auch; zumindest sind sie das nicht von sich aus. Vielmehr ist dort vor fünfzehn bis zwanzig Jahren etwas passiert. Nach dem Tod Titos ist ein Staat langsam aber kontinuierlich zusammengebrochen. Wenn der Staat und die öffentliche Ordnung zusammenbricht, verändern sich Menschen Der Himmel ist nicht mehr blau, sondern düster und droht von seinem fernen Ort auf uns herunterzubrechen. Was passiert, wenn ich nicht mehr damit rechnen kann, dass die Polizei mein Leben schützt, der Staat die Gewalt von mir fern hält?
    Die Menschen in Jugoslawien haben nichts anderes getan, als sich an das zu halten, was ihnen das Sicherste schien. Sie haben sich an die gehalten, die die selbe Sprache sprechen und derselben Volksgruppe zugerechnet werden konnten. Der Zusammenbruch der Zivilisation hat Menschen, die Männer oder Frauen, Maurer oder Ärzte, Alte oder Junge, Hipp-Hopp-Fans oder Liebhaber der Klassik waren, zurückfallen lassen auf diese atavistische Bestimmung, zu diesem oder jenem Volk zu gehören und daher Menschen anderen Volkes zum Feind zu haben.
    Ist es so unvorstellbar, dass uns das Gleiche passieren würde, dass für uns auch die Welt zusammenbrechen würde und wir dann uns zu Freunden retten um vor dem Feind sicher zu sein?

2. Gemälde des Schreckens

  • Nicht nur die Offenbarung des Johannes, auch Paulusbriefe und das Evangelium selbst sprechen vom Schrecken jener Zeit, die kommen wird. Fast unvermittelbar tritt neben die Hoffnung auf ein Anwachsen des Reiches Christi und auf ein sich Ausbreiten des Gottesfrieden die düstere Erwartung der Tage der großen Not. In diesen Tagen werden die Bestimmungsgrößen der Welt, wie wir sie kennen, ihre Verlässlichkeit einbüßen.
    "Die Sonne wird sich verfinstern, und der Mond wird nicht mehr scheinen; die Sterne werden vom Himmel fallen, und die Kräfte des Himmels werden erschüttert werden" Kosmos ist das griechische Wort für Ordnung. Der Gegenbegriff ist Chaos.
  • Solche Schreckensgemälde sind beileibe nicht auf die Bibel beschränkt. Nicht nur damals gab es eine Flut apokalyptischer Literatur. Über Nostradamus und Konsorten bis in die Gegenwart zieht sich ein Strang an Unheilspropheten. Die Bibel aber unterscheidet sich in einem wesentlichen Punkt von all diesen Apokalypsen, den Enthüllungen der Zukunft. Der Unterschied ist ein Paradox, ein spannungsvoller Widerspruch, den uns die Hl. Schrift nicht auflöst.
    • Einerseits ist es der Bibel im Realismus dieser Prophetien unbarmherzig ernst. Es wird immer wieder gegen alle Erfahrung davon gesprochen, dass all dies unmittelbar bevorsteht und wir nur die "Zeichen der Zeit" lesen müssen um zu wissen, dass es kommt, wie ein Israelit damals am Feigenbaum sehen konnte, wie weit der Sommer ist.
    • Andererseits mahnt Jesus die Jünger nachdrücklich vor all jenen, die mit dem Finger draufzeigen und sagen: hier ist es!
  • Als die Evangelien aufgezeichnet wurden, als die Kirche den Kanon der Hl. Schrift zusammenstellte verzichtete man darauf, diese Spannung aufzulösen oder die offensichtlich enttäuschte Naherwartung redaktionell zu bearbeiten. Es steht bis auf den heutigen Tag in der Bibel.
    Das aber bedeutet doch, dass die Bibel uns etwas zumutet, ja diese Zumutung für unvermeidlich hält. Es ist uns zugemutet, unsere innerste Einstellung zu Gott und der Welt, unseren Glauben prägen zu lassen von einer solchen Naherwartung und doch zugleich ruhig und besonnen unser Leben zu gestalten. Wenn der Schrecken kommt sollen wir ihn begrüßen können wie einen Besucher, der sich fest angekündigt hat, aber nicht genau wusste wann er kommt. Die Zeit bis dahin nutzen wir, um unserer normalen Arbeit nachzugehen.

3. Der kommende Christus

  • Warum diese Zumutung?
    Weil die Bibel uns zurück verweisen, ja zurück werfen möchte auf das, was trägt. Das Szenario der Apokalypse ist zugleich Realismus angesichts der Geschichte einer Welt, die sich immer wieder mit unbegreiflicher Lust ins Chaos stürzt, und zugleich ist die Apokalypse so etwas wie ein existentielles Planspiel: Was trägt? Was ist im Letzten deine Hoffnung?
  • Es ist für uns unverzichtbarer Bestandteil unseres Glaubensbekenntnisses als Kirche: "Er sitzt zur Rechten des Vaters und wird wiederkommen in Herrlichkeit, zu richten die Lebenden und die Toten." In allen drei Lesungen, die wir heute gehört haben, wird dieser Glaube bezeugt. Das Evangelium bezeugt den Glauben an Christus, der am Ende von Zeit und Geschichte "mit großer Macht und Herrlichkeit auf den Wolken des Himmels" kommt. Der Hebräerbrief bezeugt: Dieser hatte sich nach seinem Leben auf Erden "für immer zur Rechten Gottes gesetzt" und schon das Buch Daniel legt von dem Glauben Zeugnis ab, dass Gottes Gerechtigkeit am Ende scheiden wird, was Schmach und Abscheu ist, und wessen Leben unter der Obhut Gottes steht, weil er oder sie sich von der Gerechtigkeit Gottes hat ergreifen lassen.
    Besonders deutlich wird das an eben dieser Wiederkunft Christi "in Herrlichkeit", auf den "Wolken des Himmels". Aus zwei Gründen ist dies zentral für unseren Glauben.
    • Zum Einen wird dadurch deutlich, dass die Menschwerdung Gottes "für immer" (wie der Hebräerbrief betont) die Geschichte verändert hat. Christus ist nicht zum Himmel aufgefahren und hat die Welt zurück gelassen. Er ist und bleibt Herr der Geschichte. Das Gericht über die Geschichte sprechen nicht die historische Fakultät und nicht die Vergabekommission für Straßennamen.
    • Und das heißt daher zum anderen: Seine Herrlichkeit ist unverwechselbar. Die vielen die auftreten und von sich behaupten, Erlöser zu sein, sind nicht Christus. Nicht Marx, nicht Rasse oder Nation und auch nicht der freie Markt, nicht Rudolf Steiner, nicht Tipler und auch nicht Microsoft, keiner dieser Propheten sind für uns Christus. Seine Herrlichkeit, von den Wolken des Himmels kommend ist unverwechselbar.
  • Das Gesicht Christi, das wir kennen, ist das Antlitz des Schmerzenmannes am Kreuz. Von diesem allein erwarten wir unser Heil. Wenn uns dieser Glaube prägt, dann sind wir dem Einbruch des Chaos in unsere Lebensgeschichte nicht ausgeliefert. Auch wir könnten im Käfig der Seilbahn im dunklen Tunnel sitzen. Das richtet nicht unser Leben. Auch wir könnten in die Situation kommen, dass das soziale Rechtsgefüge in dem Land, in dem wir leben, zerbricht. Dann muss sich zeigen, ob wir zu atavistischem Nationalismus und zu Gewalt uns retten, oder ob wir uns dem Gericht dessen allein unterstellen, der kommt. Amen.