Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt zum 4. Fastensonntag Lesejahr B 2021 (2 Chronik)

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14.März 2021 - Gemeinschaftskrankenhaus St. Petrus Bonn

1. Revolutionäre Selbsterkenntnis

  • Selbsterkenntnis bedeutet sehen, verstehen und benennen der eigenen Vergangenheit. Denn aus ihr bin ich geworden. Das schwierigste Kapitel sind dabei sicherlich meist die eigenen Fehler. Denn selbst die Skrupulösen, die gerne in eigenen Fehlern und Selbstbeschuldigungen baden, berühren selten die wichtigen Fehler – um in die unwichtigeren umso lauter beklagen zu können – weil sie in ihren Fehlern gefangen sind und kein Gegenüber kennen, das sie trägt.
  • Wir haben vom Ende des Buches der Chronik Israels die Lesung gehört: „Alle führenden Männer Judas und die Priester und das Volk begingen viel Untreue.“ Diese Feststellung trifft sicherlich ins Mark. Die politische und geistliche Elite haben auf die Gerechtigkeit und die Treue zu Gott vergessen – und das Volk war damit zufrieden, weil man dachte, damit die Kornspeicher füllen zu können.
  • Doch der Rückblick im Buch der Chronik macht klar: Das eigene Versagen und die Untreue sind der Grund für die Zerstörung des Landes durch die Chaldäer. Nicht das Böse von außen hat unsere Stadt Jerusalem zerstört, sondern die Gottesvergessenheit und Ungerechtigkeit unter uns. Allein dieses Bekenntnis ist revolutionär in einer Welt, in der wir gerne anderen die Schuld geben. Nein, wir selbst, sagt die Bibel, haben uns die Verschleppung nach Babylon eingebrockt. – Auch, dass es einen Neuanfang geben konnte, haben wir nicht selbst geleistet, sondern Gott hat den Perserkönig Kyros berufen – wieder eine fremde Macht – das Heiligtum in Jerusalem wieder aufzubauen und dem Volk eine neue Zukunft zu ermöglichen.

2. Falsche Selbsterkenntnis

  • Sowohl politisch wie für jeden einzelnen von uns ist diese Lesung aus dem Alten Testament ungeheuer wichtig. Es ist die Bibel, aus der Jesus geglaubt und gehandelt hat und diese Texte erschließen uns das Evangelium. Das Thema ist bleibend aktuell. Die Frage nach Identität ist (wieder) eine zentrale politische Frage im Zeitalter der Globalisierung. Aber sie beschäftigt jeden von uns. Wer bin ich? Was habe ich falsch gemacht? Wie ist es so weit gekommen? Wo stehe ich jetzt? Wie kann es weitergehen.
  • Unbarmherzig ist eine Selbsterkenntnis, die sich selbst nur objektiv betrachten will. Die Unzahl der Ratgeber aus dem Fernsehprogramm, Videoclips oder auch der klassischen Ratgeberliteratur ist eben nur bedingt hilfreich, letztlich leicht unbarmherzig. In der ständigen Selbstreflexion geht es dann einerseits am Ende immer nur um mich selbst – ohne dass ein Ausweg sichtbar wird. Vor allem aber geht es um mich selbst nur wie um einen Fall, um einen Anwendungsfall der Theorie. Kein Influencer oder Ratgeber kennt mich oder ist an mir interessiert. Wehe, wer sich zu sehr auf diese Perspektive einlässt.
  • Unbarmherzig ist aber auch die Selbsterkenntnis, die alle Fehler sieht und analysiert und doch keinen Ausweg weist, weil das Gegenüber fehlt. Der größte Fehler ist am Ende dann die Unfähigkeit zur Treue und zum Vertrauen.

3. Geschenkte Selbsterkenntnis

  • Deswegen ist der erste große Unterschied, den ich in der biblischen Selbsterkenntnis finde, dass es eine Erkenntnis im Gegenüber zu Gott ist. Für Gott bin ich kein Anwendungsfall einer allgemeinen Theorie. Gott hat einen jeden von uns geschaffen und ruft uns beim Namen. Es mag der Blick auf die eigenen Fehler besonders schmerzhaft sein, wenn er ausgelöst wird durch die Erfahrung dieser großen, alles umfassenden Liebe. Aber es ist ein durch und durch heilsamer Schmerz, weil er von Liebe ausgelöst wird, von Liebe getragen wird und in diese Liebe münden kann.
  • Letztlich ist diese Selbsterkenntnis immer geschenkte Erkenntnis. Erkenntnis meiner selbst – aber sie kommt von dem einen Anderen, der mich sogar mehr liebt als ich mich selbst zu lieben vermag. Wenn wir vertrauen und uns ganz und gar von Gott erkennen lassen sehen wir nicht nur unsere Fehler, die uns von ihm trennen, sondern auch ihn, der dies zu heilen vermag.
  • Das sei der letzte Hinweis auf die Lesung aus der Bibel: Auch der Neuanfang, der dort geschildert wird, ist ein geschenkter. Der Perserkönig Kyros ist eine überraschende Gestalt in der Bibel, denn eigentlich hat er mit dem Gottesvolk Israel nichts zu tun. Dennoch ist es dieser Fremde, den Gott beruft, seinem Volk eine neue Zukunft zu eröffnen. Auch deswegen ist die von Gott geschenkte Selbsterkenntnis so unbeschreiblich barmherzig, weil sie den Blick dafür öffnet, dass neues Leben möglich ist – wenn ich zu sehen vermag, wo Gott andere dafür beruft. Amen.