Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt zum 4. Sonntag der Osterzeit Lesejahr A 2017 (Psalm)

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7. Mai 2017 - Kleiner Michel (St. Ansgar), Hamburg

1. Ärger im Zug

  • Letztes Wochenende gab es richtig Ärger. Ich war nicht direkt darin verwickelt, stand aber weniger als ein Meter daneben. Das hätte von Ärger in Ärgeres umschlagen können.
  • Einmal im Jahr versuchen wir sechs Jesuiten am Kleinen Michel einen gemeinsamen Termin für einen Ausflug zu finden. Diesmal war es das letzte Wochenende. Mit dem Zug ging es nach Amsterdam, die Jesuiten dort zu besuchen. Doch der Zug war voll. Beim Einsteigen in Hamburg schon herrschte Gedränge.
    Vor mir nun diese Situation. Ein Mann wartet im Gang, bis er sich setzen kann. Da fragt ihn ein anderer, ob er ein wenig zur Seite gehen könne, dann könne er sich schon mal setzen. Der Mann hätte den Schritt bei Seite machen können. Statt dessen aber fuhr er herum wie ein wildes Tier, das im Käfig angegriffen wird. Er lasse sich von niemand sagen, was er machen muss, fauchte er. Es folgten einige Beschimpfungen, die nicht dazu geeignet sind, hier zitiert zu werden.
  • Ich kenne diesen Mann nicht. Er ist schon nicht mehr jung, etwa mein Alter. Ich weiß nichts aus seinem Leben. Aber irgendwo muss er gelernt haben, so zu reagieren. Auf jeden auch nur entfernt möglichen Angriff reagiert er mit schroffem Gegenangriff. Schwäche zeigen ist in der Welt, in der er das gelernt hat, nicht erlaubt. Ob er in seiner Familie mit Gewalt groß geworden ist oder das durch ständige Gewalt von Lehrern oder durch Mitschülern in der Schule oder einfach in Hamburg auf der Straße gelernt hat - ich weiß es nicht.
    Vor meinem inneren Auge steht ein Mann, der erniedrigt worden ist, vielleicht immer noch wird. Er ist nicht frei, nicht innerlich, nicht äußerlich. Ein Sklave der Verhältnisse, die ihn zu dem gemacht haben, was er ist. So stelle ich ihn mir vor. Und jemand wie ihn sollte ich mir vorstellen, um Zugang zu den Schriftstellen zu bekommen, die wir heute gelesen haben. Nichts von dem, was uns diese Bibeltexte bezeugen, ist in erster Linie für Menschen geschrieben worden, die mit einem Silberlöffel im Mund geboren und auf Samtkissen groß geworden sind. Es ist vielmehr Offenbarung an den geschundenen Menschen.

2. Aus der Tiefe, aus der Weite

  • Die Gruppe unseres Reisegenossen ist tatsächlich in Osnabrück mit umgestiegen nach Amsterdam. Dort haben wir ihn in dem Touristengedränge bald nicht mehr gesehen. Es wird in der Stadt schon Attraktionen gegeben haben, deretwegen er dorthin gefahren ist. Sollten das Kirchen gewesen sein, wäre er enttäuscht worden. Die großen, alten evangelischen Kirchen der Stadt sind zu Ausstellungshallen und Vorlesungsaulen umfunktioniert worden, geschlossen oder nur gegen Eintritt zu betreten; nur kurz am Sonntag dürfen ein paar Christen dort Gottesdienst feiern.
  • Vielleicht aber ist unser Reisefreund versehentlich in einer der wenigen katholischen Kirchen gelandet und hat sich dort erschöpft ausgeruht und etwas von der Stille geatmet. Und vielleicht könnten dann aus tief in ihm die Sätze des Psalms hochsteigen, Erinnerungsfetzen aus einer abgebrochenen Kindheit: "Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir fehlen. Er lässt mich lagern auf grünen Auen"
  • Da betet keiner, dem es immer gut ging. Da ist vielmehr ein Mensch, der unter die Räuber gefallen ist, solche die nur kommen "zu schlachten und zu vernichten". Da betet ein Mensch, dessen Seele zittert, weil er den Mangel nur zu gut kennt und die Angst. Vielleicht hat er sogar schon früh Hirten erleben müssen, die sich an ihren Schafen vergreifen: Lehrer, Pastoren, Trainer, Vorgesetzte.
    Aber er lässt sich nicht durch diese Erfahrungen bestimmen, die ihm sagen, dass er nichts wert sei. Er lässt sich nicht verbiegen zu meine er könne nur leben, wenn er kämpft und um sich schlägt. Vor all dem verschließt er sein Ohr.
    Statt dessen hört er in die Tiefe seines Herzens, in die Weite des Universums, in die Stille einer Kirche vor dem Tabernakel mit dem Brot, das gebrochen wird. Dort erlauscht er eine andere Stimme. Diese Stimme hört er, dieser Stimme vertraut er: "Ich fürchte kein Unheil; denn du bist bei mir, dein Stock und dein Stab geben mir Zuversicht".

3. Erfahrungen des Vertrauens

  • Aus der Perspektive solcher Erfahrung und vielleicht letztlich sogar nur aus ihr allein kommt in der Seele etwas in dem Menschen zum Schwingen, der von Jesus hört: "Er wurde geschmäht, schmähte aber nicht; er litt, drohte aber nicht, sondern überließ seine Sache dem gerechten Richter." Ohne zumindest ansatzweise solche Erfahrung, geschmäht zu werden und zu leiden, kann man zwar auch an Christus glauben - aber immer nur, wenn ich den geschmähten, leidenden Menschen an meiner Seite in mein Gottesvertrauen mit hinein nehme.
  • Denn Menschen wie diese "kennen seine Stimme". Es ist die Stimme, die so viel leiser ist, als das Gebrüll: "Sei stark!", und gerade deswegen von einer ganz anderen Stärke zeugt: Der Stärke, die auf Gott vertraut. "Du salbst mein Haupt mit Öl, du füllst mir reichlich den Becher. Lauter Güte und Huld werden mir folgen mein Leben lang und im Haus des Herrn darf ich wohnen für lange Zeit." Ja, wohnen bei Gott, das ist im Glauben keine Erfahrung eines behaglichen Lebens, sondern die alle Erfahrung besiegende und übersteigende Geborgenheit, für die es kaum noch Sprache gibt. Es sind ja nicht einfach die Worte, es ist vielmehr der Klang der Stimme, an dem die Schafe im Gleichnis Jesu den guten Hirten erkennen.
  • Bei der Rückfahrt nach Hamburg haben wir tatsächlich wieder die selbe Zugverbindung erwischt, wie unser aggressiver Reisegenosse bei der Hinfahrt. Es war ihm nicht anzusehen, dass die Erleuchtung, sollte er in Amsterdam eine gefunden haben, ohne die Einnahme von gewissen Substanzen, statt dessen durch eine Erfahrung im Glauben zustande gekommen wäre. Aber an diesen Mann, so laut und aggressiv und letztlich so unsicher und vom Leben gebeutelt, will ich denken wenn ich bete: "Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir fehlen. Er lässt mich lagern auf grünen Auen und führt mich zum Rastplatz am Wasser." Amen.