Predigt zum 4. Sonntag der Osterzeit Lesejahr C 1992
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25. April 2010 - Kleiner Michel (St. Ansgar), Hamburg
1.
- Jeder von uns würde vor der Alternative "Knechtschaft oder
Freiheit" - ceteris paribus - ohne zu zögern die Freiheit
wählen. Die Erkenntnis, dass wir als Menschen wesenhaft frei sind und
daher frei sein sollen gehört zu den wichtigsten
Selbstverständlichkeiten unseres neuzeitlichen Bewusstseins.
- Sobald dieses Thema jedoch auf die Ebene der persönlichen
Erfahrung transponiert wird, ist das Janusgesicht der
Freiheit nicht mehr zu übersehen. Denn die ersehnte Selbstbestimmung ist
häufig, für manche zu häufig, eine Last
der Selbstbestimmung, weniger ersehnt denn gefürchtet. Und die
gefürchtete Fremdbestimmung mag manches Mal
weniger Fluch sein, denn willkommene Entlastung von der Not der
Entscheidung und der damit verbundenen
Verantwortung.
- Die Freiheit im Wesen des Menschen wird in dem Maße zur Last, in
dem die Welt komplizierter wird.
- Solange ich vor einfachen, klaren Alternativen stehe, solange
möchte ich um nichts in der Welt die Entscheidung an
andere abgeben.
- Wenn aber die Zusammenhänge undurchsichtig werden,
- wenn ich meinen Instinkten nicht mehr trauen mag, zu sagen, was gut
und was falsch ist,
- wenn ich die Nachrichten nicht mehr verarbeiten kann, die Tag für Tag
auf mich einstürzen und ich daher darum weiß,
dass ich nur der Bedingung mangelnder Information entscheiden kann
- dann wird diese so komplexe Welt zur Ursache dafür, dass ich über
meine Freiheit meine Würde und Selbstachtung zu
verlieren drohe. Denn eine Freiheit, die sich nicht orientieren kann
erniedrigt den Menschen zu einem blind
herumgescheuchten Tier(1).
- Die Menschen im Osten Deutschlands und Europas erleben das um ein
vielfaches intensiver als wir: Eine sich
sturzflutartig verändernde Welt; Koordinaten des Vertrauten die sich in
kürzester Zeit bis zur Unkenntlichkeit
durchmischt haben - dies stellt für nahezu jeden Menschen eine
Überforderung seiner Kapazitäten dar, in der der Zuruf:
Er sei doch nun frei, wie Hohn klingt.
In Wirklichkeit wird die Wende von vielen Menschen daher gleichzeitig
als Zuwachs an Freiheit und Verlust an
fundamentaler Würde erlebt.
Auch wenn von uns kaum jemand in einer derart bedrohlichen Situation
lebt, gilt das Prinzip der die Würde bedrohenden
Freigelassenheit auch hier und erklärt vielleicht viele Unsicherheit im
privaten wie im politischen.
Eingestandenermaßen oder uneingestandenermaßen erlebe ich, wie der
erstrebte Zuwachs an Verantwortung und
Entscheidungsbefugnis sich drückend auf meine Schulter legt und die
Brust zuschnürt. "Traum, Trauma, Traumatik der
Emanzipation"(2).
2.
- Auf dem Hintergrund dieses Befundes müssen wir das Evangelium des
heutigen Sonntags noch einmal hören. Zwar sind
diese Zeilen vor undenklichen Zeiten geschrieben worden. Als Wort Gottes
können sie aber dann Kraft entfalten, wenn
wir sie nicht in Antiquitiertheit sich be-ruhen lassen, sondern hören. "Meine
Schafe hören (auf) meine Stimme, ich kenne
sie, und sie folgen mir. Ich gebe ihnen ewiges Leben. Sie werden niemals
zugrunde gehen, und niemand wird sie meiner
Hand entreißen."
- Das Bild des blökend hinter seinem Hirten einhertrottenden
Schafes hat nicht erst für uns heute etwas Anstößiges.
Der gebildete griechische Bürger, als den wir uns den Hörer des
Johannes-Evangeliums vorstellen müssen, dürfte
sich durch dieses Bild mindestens ebenso provoziert fühlen wie wir.
-
- Den Satz von den Schafen, die den Hirten hören und ihm folgen
spricht Jesus als Antwort auf die Frage seiner
Kritiker nach seiner Identität.
- Der Satz gibt Auskunft darüber, was es bedeutet, an Jesus Christus
als den Messias zu glauben. Glauben heißt danach:
Untrennbar zu Jesus Christus gehören; dies nicht im Sinne eines statisch
An-einander-gefesselt-Seins, sondern im Sinne
der Vertrautheit: Ich kenne sie (und sie kennen mich, wie es
anderwärts heißt).
Vor allem anderen aber heißt dieser Glaube: Auf seine Stimme hören und
ihm folgen. Das heißt doch nichts anderes als:
Sich seinen Willen zu eigen machen und diesen Willen bestimmend werden
zu lassen für mein Leben; heißt doch: Aufgabe
der freien Befugnis über mich selbst und Hineingehen in eine
Heteronomie, Fremdbestimmung.
Doch gerade für den, der unter der Last der Selbstbestimmung leidet, ist
der Mangel dieser Auslegung des Verses
offensichtlich: Der Fremdbestimmung durch die Stimme des Hirten mangelt
es an Bestimmtheit. Durch ihn ist nichts
gesagt für mein konkretes Leben, für meine Fragen und Entscheidungsnöte.
Natürlich gibt es den bequemen und häufig gegangenen Weg die Stimme des
Herrn mit der Stimme seiner selbsternannten
Interpreten zu identifizieren. Dieser Weg heißt Fundamentalismus und
tritt oft genug in raffinierten Formen auf: Ein
Schriftwort oder Glaubenssatz der Kirche, recht interpretiert und unter
Ausschaltung eigenen Denkens angewandt, macht
den Glauben um ein vielfaches leichter.
- Bei der Fremdbestimmung, zu der uns das Evangelium auffordert ist
aber gar nicht die genaue Bestimmtheit eines
Schriftwortes der Inhalt. Diese Lösung müßte eigentlich die Intelligenz
jedes halbwegs begabten Zeitgenossen beleidigen.
Dieses Schriftwort beinhaltet vielmehr einen erheblich tiefer gehenden
Perspektiven-Wechsel.
- Die bewusste Abkehr davon, selbst, aus meinen eigen Ressourcen
heraus bestimmen zu wollen, bedeutet eine
Freistellung zum Suchen nach dem Willen, der außerhalb meiner liegt.
Er beinhaltet eine Haltung des Hinhörens, das im Gebet anfängt
und hinreicht bis zur Bereitschaft, auf das zu
hören, was meiner Meinung und Welt-Anschauung konträr zu sein scheint.
Das beinhaltet eine Bereitschaft, mich von Erfahrungen, gerade von
Erfahrungen von Not, Ungerechtigkeit,
Widerwärtigkeit betreffen zu lassen, statt alles an mir abperlen zu
lassen.
-
- An erster Stelle wirbt das Bild vom Hirten für eine
Christus-Mystik, ohne die gelebter Glaube unmöglich ist.
Diese Mystik besteht darin, dass ich mir Zeit nehme, über das Nach-leben
der Heiligen Schrift mit der Weise Jesu
vertraut zu werden, wie er denkt und urteilt in den Situationen, von
denen uns das Evangelium berichtet.
Und das gerade nicht, um diese Situationen linear in unser Leben zu
projizieren, sondern um die innere
Vertrautheit zu gewinnen, die dem zärtlichen Wort vom "Hören der
Stimme" nahe kommt.
Viele Situationen werden zwar nicht entschieden, gewinnen aber eine
andere Perspektive, wenn sie aus einer
intimen Schrift-Kenntnis mit der Frage konfrontiert werden: Wie hätte
Jesus in dieser Situation gehandelt.
-
- Diese Auslegung des Bildes vom Hirten wäre unvollständig, wenn
sie nicht sieht, dass das Hören und Folgen in
diesem Gleichnis kein individueller Akt verstreuter Schafe ist, sondern
eine Gemeinde anspricht, die genau darin
zusammenkommt, dass sie auf die Stimme des Herrn hört.
3.
- Erst hier, wenn dieser Blickwinkel gewonnen ist, kann nämlich
deutlich werden, warum die Bereitschaft zur christlichen
Heteronomie ein Akt der Befreiung auch und gerade aus dem Fluch der die
Würde aufreibenden Freiheit ist.
Denn die Gemeinde, wie sie hier in vielen Einzelnen nebeneinander sitzt,
ist kein homogener Block. In vielen wichtigen
gesellschaftlichen Fragen ist das Spektrum der Meinungen unter Christen
fast ebenso breit wie außerhalb der Kirche.
Aber dass diese so verschiedenen, ja gegensätzlichen Überzeugungen und
Typen miteinander Gott als ihren Herrn feiern,
nimmt den anderen Entscheidungs-Fragen das existentielle Gewicht, unter
dem so viele Zerbrechen.
- Weil die alles entscheidende Frage: Wer der Herr des Lebens sei,
nicht von uns, sondern von Gott her, herteronom
beantwortet ist, eröffnet sich die Chance zu dem spielerischen Ernst,
durch den allein die wirklich wichtigen Fragen des
Lebens angegangen werden können.
-
- Mir ist dieser Zusammenhang durch viele Erfahrungen im
Jesuiten-Orden deutlich geworden. Ich habe Mitbrüder
kennen gelernt und mit ihnen in Kommunitäten gelebt, die in vielen
politischen, philosophischen, liturgischen und
ästhetischen Fragen erheblich anderer Ansicht waren - und wir konnten
dennoch lernen, einander zu akzeptieren,
wenn wir uns der gemeinsamen Basis im Glauben bewusst geworden sind.
- Allerdings, auch das kann ich aus der Erfahrung bei Jesuitens
bestätigen, diese Gemeinde kann diese Funktion nur
erfüllen, wenn sie zutiefst dialogisch geprägt ist.
Wenn wir die Chance der Verschiedenheit nur dazu nutzen, einander
anzuschweigen, gehen wir dessen verlustig,
wozu der Herr uns zusammengeführt hat: Seine Kirche. Die von ihm
geschenkte Gemeinschaft darf nicht dadurch
zerstört werden, dass wir doch wieder auf den vorletzten Dissens
zurückfallen und darüber das offene Gespräch
miteinander vertun. Letztlich heißt das, das Geschenk der Gnade
zurückweisen.
- Der Glaube will gelebt sein und ist ein langer, keineswegs
leichter Prozeß. Er funktioniert nur, wenn wir ihn gemeinsam
angehen. Aber das Vertrauen, dass dies der Weg des Heiles ist, kann sich
auf das Evangelium stützen. Denn auf die
Schilderung des vertrauten Verhältnisses des Hirten zu seiner Gemeinde
lässt Jesus die Zusicherung folgen: "Ich gebe
ihnen ewiges Leben. Sie werden niemals zugrunde gehen, und niemand wird
sie meiner Hand entreißen."
Wir sollten ihn beim Wort nehmen. Amen
Anmerkungen
1. Vgl. Deutsch, Karl W:
Politische Kybernetik. Modelle und Perspektiven. Freiburg (Rombach) 31973,
S. 196.
2. Luhmann, Niklas: Individuum und
Gesellschaft. In: Universitas. Heft 1 1984. S. 1-11, 7.