Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt zum 5. Fastensonntag Lesejahr B 2012 (Jeremias/Johannes)

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25. März 2012 - Kleiner Michel (St. Ansgar), Hamburg

1. Klein und groß werden erkennen

  • Der Überfall eines Terroristen auf eine jüdische Schule in Toulouse hat die französische Nation vereint. Zuvor hatte derselbe Mann Soldaten, die aus nordafrikanischen Familien stammen, ermordet. Aber erst der Mord an Kindern hat daraus die nationale Erschütterung werden lassen. An allen französischen Schulen gedachten die Kinder der Ermordeten.
  • Keine Statistik der jährlichen Verkehrstoten oder gar der Opfer von Gewalt und Terror irgendwo in der Welt vermag Ähnliches. Es muss etwas Verbindendes dabei sein - wie hier die französische oder nur eine Woche zuvor die belgische Nation. Und dass es Kinder waren, ist für die Betroffenheit erheblich.
  • Dies liegt wohl daran, weil im Blick auf Kinder sich der Sachverhalt ähnlich darstellt, egal ob jemand intellektuell alle Aspekte analysiert, oder 'nur' mit schlichtem Menschenverstand darauf schaut. Wenn Jeremia in der heutigen Lesung von der Erkenntnis von "Klein und Groß", spricht, dann meint er solche Situationen, in der Reiche und Arme, Gebildete und einfache Menschen gleichermaßen erkennen, was Sache ist.

2. Erkenntnis der Gegenwart Gottes

  • Gewalt und Tod, vielleicht auch schweres Unrecht scheinen allein in der Lage, so viele Menschen in innerer Bewegung zusammenzuführen. Einzig gesteigertes (oder übersteigertes) Wir-Gefühl, bei einer Fußballweltmeisterschaft oder leider auch bei Kriegsbegeisterung wie in Deutschland zuletzt 1914 mögen auch regelmäßig "Klein und Groß" vereinen; der Mauerfall, live im Fernsehen übertragen, bleibt die Ausnahme.
  • Wenn ich mich selbst kritisch frage, muss ich eingestehen, dass ich nicht anders wäre. Wäre das Erscheinen eines guten Menschen in gleicher Weise geeignet, mich zu bewegen und in großer Gemeinschaft zu erschüttern, so sehr, dass sich meine Einstellung zum Leben dadurch in gleicher Weise berühren ließe? Gibt es das, dass ein Mensch eine solche Ausstrahlung der Güte und des Friedens hätte, dass jeder auf dem Platz von allen Gedanken des Unfriedens ließe und sich bekehrte? [James Frey lässt seinen Ben in "Das letzte Testament der Heiligen Schrift" eine solche Wirkung selbst unter Schwerverbrechern auf dem Gefängnishof haben - leider nur ein Roman.]
  • Jeremia lässt Gott sprechen "Klein und Groß werden mich erkennen". Dabei meint er sicherlich kein äußerliches, spektakuläres Wunder. Es ist vielmehr etwas, das "auf das Herz geschrieben" ist und von innen her eine neue Wertschätzung der göttlichen Ordnung unter den Menschen bewirkt. Es scheint so, leider, dass nur ein Ereignis wie das von Toulouse geeignet ist, Menschen zu erschüttern und nachdenken zu lassen, dass sie in einer Gemeinschaft zusammenleben wollen, in der auch jüdische Kinder, auch Einwanderer aus Nordafrika dazu gehören.

3. Hinaufblicken zum Kreuz

  • Im Johannesevangelium sagt uns Jesus: "Und ich, wenn ich über die Erde erhöht bin, werde alle zu mir ziehen", und der Evangelist kommentiert: "Das sagte er, um anzudeuten, auf welche Weise er sterben werde". Dieses "alle zu mir ziehen", dass Menschen dem Herzen Gottes nahe kommen, kann offensichtlich, so wie wir Menschen zu denken gelernt haben, nur über das Kreuz geschehen. Das Auftreten des heilenden und predigenden Messias allein konnte das nicht bewirken, erst der Tod des Gerechten am Kreuz. Jesus selbst ist darüber bis in seine "Seele erschüttert"; er würde diese Stunde lieber meiden, wenn es einen anderen Weg gäbe, das Herz der Menschen zu erreichen. Und dazu ist er "in diese Stunde gekommen".
  • Aber auch die Erschütterung über den Tod eines Kindes oder das Kreuz des Gerechten kann oberflächlich bleiben, ein emotionales Strohfeuer während der 2-Minuten-Meldung in den Abendnachrichten. Es gilt zu verstehen, dass ich selbst in gewisser Weise sterben muss, damit der Blick auf das Leiden als Gegenwart des barmherzigen Gottes begriffen - ich davon ergriffen werden kann
  • Ohne mein eigenes "Sterben" blicke ich auf das Opfer der Gewalt herab - und bleibe auf meiner eigenen Höhe. Auch der Blick auf Augenhöhe ist es nicht; ich bin nicht der, der dies erleidet. Johannes sieht daher immer zum Kreuz hinauf, sieht den Erniedrigten als den Erhöhten. Dieser Blick nach oben - so wie wir zu Gott aufblicken - ist als christliche Haltung einzuüben: Hinaufblicken zu dem Kind, das ermordet wird, hinaufblicken aber auch zum Bettler, der vor mir auf der Straße sitzt und zu dem Kranken, der vor mir in seinem Bett liegt. Hinaufblicken zu all dem, auf das wir sonst herabblicken. Denn dort hat Gott beschlossen, uns zu begegnen, um unser Herz zu berühren und uns zu erschüttern, damit unser Leben heil wird. Amen.