Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt zum 7. Sonntag im Lesejahr C 2001

Zurück zur Übersicht von: 07. Sonntag Lesejahr C

18. Februar 2001 - khg Göttingen, Universitätskirche St. Nikolai

Der Tausch der Erfolgreichen und das unterscheidend Christliche

1. Gegenseitigkeit und Markt

  • Exakt in der Mitte des heutigen Evangeliums steht ein Satz, dessen Bedeutung gar nicht überschätzt werden kann. Gemeinhin nennt man das, was Jesus hier sagt, die "Goldene Regel". Golden ist diese Regel fürwahr, denn auf ihr ruht alle menschliche Gesellschaft auf: "Was ihr von anderen erwartet, das tut ebenso auch ihnen", oder negativ gefasst: Was du nicht willst, das man dir tut, das füg auch keinem andern zu.
  • Diese Regel scheint nicht nur theoretisch für alle Menschen einsichtig zu sein. Jenseits aller Religionen und Philosophien leuchtet der Satz ein, dem Alltagsverstand nicht zuletzt. Ich kann von anderen nicht erwarten, was ich nicht selbst zu geben bereit bin. Im Grunde genommen ist es daher ein Tausch, der den Beziehungen zu anderen Menschen zu Grunde gelegt wird. Meine Einstellung und mein Verhalten biete ich den anderen zum Tausch dafür an, dass sie sich genau so verhalten.
  • Auf dieser Gegenseitigkeit scheint quer durch alle Zeiten das Zusammenleben der Menschen aufzuruhen. Ich gebe dir, du gibst mir. Aber zum allgemeinen Prinzip ist das erst geworden in einer Zeit, in der der Tausch allgemein das Zusammenleben bestimmt. Du gibst, ich nehme und über den Preis stellen wir Gegenseitigkeit fest. Das macht doch die Gerechtigkeit einer Marktwirtschaft aus, dass sie auf Tausch beruht. Heute mehr denn je. Daher ist uns Heutigen die Goldene Regel so plausibel: "Was ihr von anderen erwartet, das tut ebenso auch ihnen". Diese Regel steht, wie gesagt, in der Mitte des heutigen Evangeliums.

2. Vom Leistungs- zum Erfolgsprinzip

  • Es lohnt sich aber genauer hinzuschauen, wie das mit dem Tausch funktioniert - um zu verstehen, wann und warum es mit der Goldenen Regel nicht mehr funktioniert.
  • Im Ideal der kapitalistischen Wirtschaftsweise zählt, was Einer leistet. Jemand bringt eine Leistung, bietet diese anderen an und wird dafür mit Geld und Ansehen belohnt. Nicht Herkunft und Stand, sondern Leistung soll zählen, denn das Ergebnis der Leistung nutzt anderen und kann mit anderen getauscht werden. Eine soziale Marktwirtschaft sichert in diesem System die Schwachen und verhindert den Missbrauch von wirtschaftlicher Macht. Das Prinzip aber ist der Tausch der Frucht dieser Leistung.
    "Was ihr von anderen erwartet, das tut ebenso auch ihnen". Ich kann darin nichts anderes als ein gutes und gerechtes Prinzip sehen. Deswegen verbindet sich mit Leistung auch zu Recht gesellschaftliche Anerkennung.
  • Leider aber gilt das Prinzip nicht mehr. Denn wenn wir heute - sagen wir in den letzten zehn Jahren, in den USA schon früher - aufmerksam Veränderungen beobachten, dann ist es mehr und mehr nicht die Leistung, die zählt, sondern Erfolg. Erfolg messbar in verfügbarem Geld. Waren noch vor wenigen Jahrzehnten Leute, die ohne eigene Leistung zu Geld gekommen waren, gesellschaftlich scheel angesehen, gilt das weniger und weniger. Der schnelle Erfolg zählt. Viel Geld verfügbar zu haben steht in der Werteskala zunehmend weit oben, bei den Jüngeren besonders. Dass dadurch Verbindlichkeit und Verlässlichkeit als Werte verschwinden, muss nicht verwundern, denn der schnelle Erfolg braucht im Unterschied zur Leistung keine Dauer. Hast´e was, dann bist´e was. Ob Erbschaft oder Aktiengewinn ist dabei egal. Mit der Umstellung der Werteskala vom Leistungsprinzip zum Erfolgsprinzip wird so auch die Goldene Regel ausgehöhlt.

3. Das unterscheidend Christliche

  • Aber schon, wenn Leistung das Prinzip ist, ist es schwierig genug, zu begründen, dass auch diejenigen ein Recht auf Achtung haben, die nicht in der Lage sind, die Leistung zu erbringen, die gerade gefordert wird. Kann es daher sein, dass Jesus das gefordert hat? "Was ihr von anderen erwartet, das tut ebenso auch ihnen". Ist hier nicht eine kalte Aufrechnung am Werk, die so gar nicht zum Evangelium passt? Es stimmt, der Satz steht in der Mitte des heutigen Evangeliums. Er ist aber umklammert von Sätzen, die klarstellen, wie er gemeint ist: "Dem, der dich auf die eine Wange schlägt, halt auch die andere hin", steht davor und "Und wenn ihr nur denen Gutes tut, die euch Gutes tun, welchen Dank erwartet ihr dafür?" dahinter.
  • Man kann sich auf den Standpunkt stellen, Jesus sei der Satz mit der Goldenen Regel so herausgerutscht, als allgemeine Weisheit. Oder aber er will, dass wir diese Regel neu und anders verstehen. Denn, erinnern Sie sich, die Predigt Jesu, aus der das Evangelium genommen ist, stellt nicht allgemeine Weisheit für jedermann auf, sondern richtet sich speziell an uns, die Jünger Jesu. Sie richtet sich an Menschen, die mit Jesus nach einem neuen Gottesverhältnis suchen - und damit nach einem neuen Menschenverhältnis. Das Neue aber ist eindeutig, dass die berechnende Gegenseitigkeit durchbrochen wird. Nicht zurückschlagen sollen wir, sondern die andere Wange hinhalten. Nicht nur denen Gutes tun, die es uns mit Gleichem vergelten.
  • Wo bleibe ich dabei? Wenn wir als Christen aufgefordert werden aus der Verlässlichkeit des Tausches auszubrechen, bedrängt uns die Angst, uns damit zu überfordern, daran zu zerbrechen. Ich muss mich doch selbst lieben, um den Nächsten lieben zu können! Ja, sicher, aber nicht nach der Weise des berechnenden Tausches. Verstehen kann ich das nur, wenn ich zuerst in den Geist der Seligpreisungen eingetaucht bin: "Selig, ihr Armen, denn euch gehört das Reich Gottes". Mit jeder Wange, die ich hinhalte, mit jeder guten Tat, für die ich nicht auf Ausgleich setze, entdecke ich etwas mehr von der Wirklichkeit Gottes. Mit seinem Reich wird beschenkt, wer sich in die Unsicherheit fallen lässt. Jesus mutet das seinen Jüngern zu. "Seid barmherzig, wie es auch euer Vater ist!" In diesem Satz wird deutlich, dass es die Nähe zu Gott ist, die die Haltung Jesu so erstrebenswert macht.
    Dass inmitten dieser Predigt die Goldene Regel steht, liest sich jetzt ganz anders. Diese Nähe zu Gott sollen wir vertrauensvoll bei jedem Menschen, dem wir begegnen, voraussetzen. Denn Gottes Barmherzigkeit enttäuscht nicht. Wir handeln sie uns nicht ein. Gott schenkt sie. Amen.

 


 

Literaturhinweis: Neckel, Sighard: Leistung versus Erfolg. Der Zufall von Reichtum und Ruhm - Zur symbolischen Ordnung der Marktgesellschaft. 2000. In: Frankfurter Rundschau Heft vom 7.10.2000, S. 21.
Höffe, Otfried: Politische Gerechtigkeit. Grundlegung einer kritischen Philosophie von Recht und Staat. Frankfurt/Main (Suhrkamp) 1989, S. 86f.