Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt zum Sonntag Christkönig im Lesejahr A 2002 (1. Korintherbrief)

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24. November 2002 - Universitätsgottesdienst, St. Ignatius Frankfurt

1. Grenze

  • Vor zehn Jahren bin ich zum ersten Mal bei der sommerlichen Fahrradtour nach Osteuropa gefahren. Bis dahin war dies für mich unbekanntes Land. Irgendwo in der westlichen Ukraine hat es mich regelrecht überfallen: Das Gefühl, dass vor mir keine Grenze liegt. Ich könnte wochen- und monatelang weiterfahren, ohne an eine Grenze zu stoßen. Grenzenloses, unbekanntes Land. Bisher war dies nie so. Wenn ich nach Frankreich fahre, brauche ich nicht bis zum Atlantik zu kommen, um dennoch immer die innere Gewissheit zu haben, dass da eine Grenze auf mich wartet, der große Ozean. Der Pazifik im Westen hingegen ist für mich Radfahrer so weit und unreal, wie es der Pazifik für die Siedler im amerikanischen Westen lange Zeit war.
  • Es hat noch Jahre gedauert, bis ich die Bedeutung dieses Gefühls realisiert habe. Es macht einen gewaltigen Unterschied, ob ich um die Grenze weiß, die irgendwann in realer Entfernung auf mich wartet, oder nicht. Der US-amerikanische Western lebt unterschwellig immer von der Erfahrung, dass sich the frontier immer weiter ausdehnen lässt. Als Westeuropäer hingegen sind wir durch Grenzen geprägt. Hindernde Grenzen manchmal, sichernde Grenzen oft.
  • Ob diese kulturprägende Erfahrung uns als Individuen prägt? Jeder muss da für sich in sich hineinhören, um die Antwort zu erhalten. Lebe ich so, als ob das Leben immer weiterginge - wissend natürlich, dass dem nicht so ist? Oder ist die Begrenztheit meines Lebens eine stets mitschwingende innere Gewissheit?
    In verschiedenen Lebensabschnitten ist das sicherlich sehr verschieden. Als Student ist die ersehnte Grenze das Examen; auch wenn es noch Jahre bis dahin ist, wird die Grenze immer mitschwingen. Gerade jedoch wer diese Grenze eben hinter sich gebracht hat, gar seine erste feste Anstellung gefunden hat, der wird auf einmal gewahr werden, dass es nun immer so weiter geht - und sich fragen, wie es weitergehen soll.
    Das macht deutlich: es ist nicht das eine Gefühl "religiöser" als das andere. Das Bewusstsein der Grenze kann mich zu Gott führen: den Tod vor Augen, oder von Gott ablenken: erst einmal diese Grenze erreichen, um dann weiter zu sehen.

2. Erster ist Christus

  • Die zweite Lesung und das Evangelium spannen einen Bogen, in dem sich das Zentrum des christlichen Glaubens spiegelt. Wie wir es im Großen Glaubensbekenntnis sagen werden: Jesus Christus, wahrer Mensch und wahrer Gott.
    • Das Evangelium vom Weltgericht identifiziert Christus mit jedem Menschen in Not, dem wir begegnen, wahrer Mensch. Und es spricht in diesem Evangelium nicht eine abstrakte Weisheit, sondern Jesus von Nazareth, in den letzten Tagen seines Lebens in Jerusalem: wahrer Mensch. Dieser Mensch, der vor zweitausend Jahren gelebt hat, spricht von sich als von dem, an dem sich für jeden Heil und Verderben scheidet und entscheidet. Was immer wir tun, haben wir ihm getan, denn er ist wahrer Gott.
    • Die Lesung aus dem 1. Korintherbrief konfrontiert uns mit dem Tod Jesu. Am Kreuz hat er einen jämmerlichen Tod erlitten: wahrer Mensch. Von diesem Menschen aber bekennt Paulus: "Da durch einen Menschen der Tod gekommen ist, kommt durch einen Menschen auch die Auferstehung der Toten." Der eine Mensch, durch den der Tod gekommen ist, sind wir alle, denn wir alle sind geschaffen als Adam, als Mann und Frau. Der Mensch, der Adam der wir sind, bringt Tod. Jeder von uns auf seine Weise. Der eine Mensch aber, durch den die Auferstehung kommt, ist Christus, der wahre Mensch. Ihn offenbart Gott als wahren Gott. An ihm scheidet sich Tod vom Leben.
  • Was bedeutet das, was wir im Glaubensbekenntnis sprechen? Wenn Jesus wahrhaft Mensch war, dann teilt er unser Verhältnis zur Grenze des Lebens. Wenn Christus wahrer Gott ist, dann ist seine Grenze die Grenze allen Menschseins.
    Es ist ein frommer Irrtum zu meinen, Jesus habe von Anfang an gewusst, wie sein Leben werden würde. Wenig vor dem Abschnitt des Evangeliums, den wir heute gehört haben, sagt Jesus: "Jenen Tag und jene Stunde kennt niemand, auch nicht die Engel im Himmel, nicht einmal der Sohn, sondern nur der Vater" (Mt 24,36). Jesus ist Mensch wie wir. Nur aus dem wachsenden Widerstand seiner Gegner weiß er allmählich, dass es zum tödlichen Konflikt kommen wird. Nur weil er entschlossen ist, sich nicht korrumpieren zu lassen, weiß er, dass das Schicksal ihn treffen wird. Die Zeit läuft auf ein Ende zu, aber den Tag und die Stunde kennt nur Gott, der Vater.
  • Wahrer Gott und wahrer Mensch ist Jesus Christus, wenn er mit dem Beginn seiner Verkündigung ausruft: "Das Himmelreich ist nahe!" (Mt 3,2). Jesus hat in der Erwartung gelebt, dass das Endgericht über diese Welt und der Anbruch des Reiches Gottes nicht mehr lange auf sich warten lässt. Er hat dies ausweislich zahlreicher Belege im Evangelium ganz konkret erwartet. Obgleich er als Mensch wie wir nicht wusste, wie das Leben weiter geht, hat er doch gewusst, dass sein Leben, die Grenze seines Lebens, diese Welt begrenzt.

3. Mitgehen

  • Christlich leben heißt aus diesem Evangelium heraus zu leben. Wir teilen mit allen Menschen die Erfahrung der Unsicherheit über die Grenze, die auf uns wartet. Den Tag und die Stunde weiß nur Gott. Zugleich ist diese Grenze aber für uns schon konkret erreicht: Weil wir in der Taufe in Christus hineingeboren wurden, ist sein Tod bereits ein Teil unseres Lebens. Das kommt zum Ausdruck in den Gebeten, in denen wir bewusst und unerschrocken von unserem eigenen Tod sprechen. Zugleich aber sind wir aber durch die Taufe hineingenommen in die Auferstehung, haben den Tod überwunden. Wir haben von Gott die Zusage, dass wir im Leben sind, wenn wir in Christus sind. Mit Christus zu gehen bedeutet, bewusst auf eine Grenze zuzugehen - um sie zu überschreiten.
  • Klingt das wie abstrakte Theorie? Das Evangelium weist uns als Ort des Mitgehens mit Christus den Menschen: "hungrig oder durstig oder obdachlos oder nackt oder krank oder im Gefängnis". Unversehens ist der Glaube an den wahren Gott ganz und gar lebensnah. Bedrückend lebensnah, würden wir sagen, denn wer von uns naht sich dem Kranken, Obdachlosen und Gefangenen? Wer von uns verfügt über das Übermaß an Liebe, um sich an die Grenze zu Krankheit, Obdachlosigkeit, Gefängnis und Tod zu wagen?
  • Sie können als Christ nicht leben, wenn Sie nicht mehr haben, als Gewohnheitsrituale oder halbesoterische Meditation. Wir können als Christen nur leben, wenn wir uns immer und immer wieder in Christus versenken, wenn wir die Heilige Schrift hören, das Geheimnis seines Todes in der Messe feiern und im persönlichen Gebet um die Nähe zu Christus ringen. Nur dann können wir wahrhaft als Mensch leben, wenn wir uns eintauchen lassen in Gott, der unter uns Mensch geworden ist.
    So wie uns erfahrene und gewusste Grenzen - der nahe und der ferne Ozean - prägen, so wird uns dann die Nähe des Reiches Gottes prägen, das in Christus real geworden ist. Amen.