Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt zu Karfreitag 1994

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1. April 1994 - Gluringen/Oberwallis

Die Predigt nimmt Bezug auf eine kleine Szene in dem Bio-Pic "Ghandi" von Richard Attenborough Mein Bruder  der Vampir

1. Das Kreuz sehen lernen

  • In langer Reihe kommen wir im Karfreitagsgottesdienst nach vorne, um das vor dem Altar aufgestellte Kreuz zu verehren. Eine stille Prozession, und jeder wird in diesem Augenblick etwas empfinden und ein inneres Bild vor sich haben.
  • Das eine Bild aber ist vor uns allen aufgestellt, das Bild des Kreuzes. Wir sehen in der Kirche oder daheim so viele Kreuze, dass wir leicht vergessen, was ein Kreuz eigentlich ist. Hier stellen wir es in den Mittelpunkt, um es zu sehen und zu ehren.

  • In dem Film "Ghandi" [von Richard Attenborough] unterhält sich ein europäischer Missionar im Zug mit einem Inder. Als dieser hört, der Europäer sei Christ, erzählt er ihm, er habe gehört, dass die Christen in ihren Gottesdiensten schreckliche Sachen machen. Sie würden dort Menschenfleisch essen und Menschenblut trinken! Wie leicht haben wir vergessen, was es bedeutet, dass Jesus uns seinen Leib zu essen gibt. Es ist ein Opfer, in dem er sein Leben hingegeben, in dem er sein Blut vergossen hat. Das Missverständnis des Inders sollte uns helfen, unsere Feier klarer zu sehen.

2. Der Marterpfahl

  • Denn auch das Kreuz ist eigentlich kein Schmuckgegenstand, den man sich zur Zierde an die Wand oder um den Hals hängen sollte. Es ist zuallererst Kreuz, Henkersgalgen, das Werkzeug der Mächtigen, um den Willen der Ohnmächtigen zu brechen. Es ist das Werkzeug, dessen sich niedrige menschlichen Neigungen bedienen, um Menschenleben zu zerstören.
  • Das Kreuz, das Gott in Jesus Christus trägt, ist das Kreuz der Opfer aller Jahrhunderte, der gemarterten und geschundenen Menschen, von Anfang an bis zu den zahlreichen Vertreibungen und Ermordungen unserer Zeit.
  • Die Christen haben sich lange Zeit gescheut, das Kreuz darzustellen (wohl erst ab dem 3. Jh.) oder gar wie wir im Gottesdienst zu verehren (ab dem 7.Jh.). Wenn die Hl. Schrift vom Kreuz spricht, dann hatte jeder damals das blutige Marterinstrument vor Augen. Das wollte man nicht auch noch malen. Wahrscheinlich ist es nicht auszuhalten, solange die unmittelbare Erfahrung noch da ist, welche Gewalt das Kreuz bedeutet, sich auch noch ein Bild davon vor Augen zu stellen.

3. Das offenbare Kreuz gegen das Vergessen

  • Wir aber sind umgekehrt eher in der Gefahr, die Wirklichkeit zu vergessen, die das Kreuz meint. Wir lassen uns betören von den Machthabern, die die Kreuze unserer Zeit hinter den Zäunen ihrer Konzentrationslager verstecken wollen. Die Gewalttätigen wissen um die Abscheu vor dem Kreuz und versuchen daher ihr Tun zu verheimlichen. Die Finsternis ist ihre Stunde (Lk 22,53).
  • Diese Finsternis, in welcher das Leiden in Vergessen gehüllt werden soll, diese Finsternis wird vom Kreuz erhellt. "Die Fürsten und Gewalten hat Gott entwaffnet und öffentlich zur Schau gestellt; durch Christus hat er über sie triumphiert", schreibt der Hl. Paulus (Kol 2,15). Das Kreuz Christi macht es offenbar, es stellt die Mächte dieser Welt zur Schau. Das Kreuz ist aufgerichtet als Mahnmal derer, denen die Stimme geraubt werden soll.
  • Vor diesem Kreuz beugen wir die Knie. Diesen Gott verehren wir, der in die Tiefe der Finsternis steigt, damit wir sehen. Sehen und glauben. Amen.