Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt zum Hochfest der Aufnahme Mariens in den Himmel 1993

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15. August 1993 - St. Alfons, Aachen

1. Technische Zeit, Lebenszeit, Glaubenszeit

  • Wir haben es zu einer erstaunlichen Präzision gebracht, wenn es darum geht, Handeln verschiedener Menschen an verschiedenen Orten aufeinander abzustimmen. Selbst über Kontinente hinweg können Uhren auf Nanosekunden genau aufeinander abgestimmt werden.
  • Vermutlich bewirkt die Armbanduhr, die Uhr in der Wohnung und den meisten Arbeitsplätzen, dass Zeit für uns gleichbedeutend ist mit Uhrzeit, mit technischer Zeit. Tatsächlich gibt es aber noch weit mehr Zeiten als diese in Stunden, Minuten und Sekunden benennbare Uhrzeit.
  • Die wichtigste Zeit ist für uns, obwohl wir es vielleicht selten gewahr werden, die Lebenszeit. Möglicherweise ist unser Begriff von Zeit durch die Uhrzeit bereits so weitgehend bestimmt, dass der Gedanke sperrig ist, Lebenszeit als »Zeit" im eigentlichen Sinne aufzufassen. Sie ist so wenig bestimmt, bestimmbar. Auf die Frage: Wie spät haben Sie, bitte? dürften die meisten von Ihnen eine Antwort haben. Dagegen hege ich kaum Hoffnung, auf die Frage: In welcher Zeit leben Sie derzeit? eine Antwort zu bekommen. Denn für die Lebenszeit ein Wort zu finden, das sie fasst, ist bereits unendlich schwer. Noch schwerer ist es, sie mitzuteilen, meine Zeit mit der eines anderen abzustimmen.
  • Lebe ich in der "Zeit der Erwartung" oder in der "Zeit der Leere". Manche leben in der "Zeit zum Tode" aber fürchten nichts so sehr wie einen Blick auf ihre Lebenszeit. Eine "Zeit der Stille" mag ich mir wünschen, jene ruhige, in sich ruhende Zeit die zu dem Flüchtigsten gehört, was Zeit hervorbringt. Die "Zeit der Vorbereitung", die bei vielen Menschen die ersten zwei Jahrzehnte des Lebens und länger dauert, wird überlagert von einer "Zeit der Ungeduld".
  • In dieser Weise gibt es viele Abschnitte auf der großen Uhr der Lebenszeit.
  • Von dieser Lebenszeit ist noch einmal verschieden die Glaubenszeit. Zunächst mag uns an dieser Zeit auffallen, was uns bewegt und was von uns kommt: "Zeit des Vertrauens" und "Zeit der Stärke", "Zeit des Zweifels" und "Nachtzeit". Diese Bestimmungen der Glaubenszeit sind überaus wichtig. Wenn ich nicht lerne, sie zu bestimmen, wird es mir schwer fallen, mein Leben vor Gott zu sehen und zu deuten und darin voranzuschreiten.
  • Die Glaubenszeit hat aber noch eine andere Dimension, die Dimension die sich nicht aus dem Auf und Ab unseres Herzens bestimmt, sondern von Gott her gesetzt wird, von ihm gesetzt wurde. Die Abschnitte dieser Zeit sind der Inhalt der Offenbarung: des Wirken Gottes in dieser Welt und an uns. Er, der ewige und unwandelbare Gott, beginnt mit uns eine Geschichte.
  • Ich glaube, dass das heutige Fest der Aufnahme Mariens in den Himmel uns bei der Aufgabe helfen kann, unsere Lebenszeit und unsere Glaubenszeit mit der Zeit in harmonischen Rhythmus zu setzen, die von Gott her ihr Maß erhält: Unsere Unbeständigkeit als Fähigkeit zu entdecken, in Gott zu ruhen; in ihm ruhen zu dürfen, um unsere Zeit in den Sand unserer Welt zu schreiben.

2. Erster ist Christus

  • Der Erste Brief des Apostels Paulus an die Korinther ist an Menschen geschrieben, die ganz in ihrer eigenen Zeit verfangen sind, und deswegen für das Wirken Gottes ebenso blind sind, wie für die Wirklichkeit der Welt, in der sie leben.
  • Das ist nicht auf den ersten Blick sichtbar: scheint doch die Gemeinde in Korinth überaus lebendig gewesen zu sein; es wurden Gottesdienste gefeiert und, wichtiger noch, es scheint die Regel gewesen zu sein, dass die Christen ganz aus einer persönlichen und intensiven Glaubenserfahrung heraus gelebt haben.
  • Das Eigentümliche ist nur: in dieser Gemeinde scheint es nicht wenige zu geben, für die die Auferstehung der Toten für den persönlichen Glauben ganz und gar entbehrlich scheint. Ist denn nicht, so könnte das Argument lauten, ein erfülltes Leben, im Glauben natürlich, hier in der Erdenzeit das zentrale? Was taugt ein Glaube, der uns nur auf das Jenseits vertröstet. Ist das mit der Botschaft von Auferstehung, Himmelfahrt gar, nicht ohnehin nur schwer nachzuvollziehen?
  • Paulus setzt im Ersten Korintherbrief dagegen ein klares Nein: Wenn es keine Auferstehung gibt, ist Christus nicht auferstanden, und alles was wir als Christen sagen und tun ist Verlogenheit; schlimmer noch: erklärt Gott zum Lügner.
  • Da nämlich durch einen Menschen der Tod gekommen ist, kommt durch einen Menschen auch die Auferstehung der Toten. Denn wie in Adam alle sterben, so werden in Christus alle lebendig gemacht werden.
  • Und diese Auferstehung Christi steht in einem festgelegten Verhältnis zu uns, die wir als Getaufte zu seiner Kirche gehören dürfen. Paulus sagt: Auf Christus hin sind wir getauft. Wenn wir unseren Glauben ernst nehmen, kann das nur heißen: Unser Leben geht nicht an Jesus Christus vorbei, sondern ist durch und durch von ihm her bestimmt. Die Zeit unseres Lebens ist die, die Gott setzt und bestimmt.
  • Noch einmal der Erste Korintherbrief: Es gibt eine bestimmte Reihenfolge: Erster ist Christus; dann folgen, wenn Christus kommt, alle, die zu ihm gehören. Danach kommt das Ende, wenn er jede Macht, Gewalt und Kraft vernichtet hat und seine Herrschaft Gott, dem Vater, übergibt. Denn er muss herrschen, bis Gott ihm alle Feinde unter die Füße gelegt hat.
  • Der Tod ist eine Realität. Die Auferstehung Christi ebenso. Wir sind hineingestellt in die Zeit zwischen der Überwindung des Todes in der Auferstehung Christi und der Vollendung in Gott.

3. Gottes Zeit

  • Von Gott her ist die Zeit festgelegt. Wir entgehen nur dann der Versuchung zur Verlogenheit, wenn wir uns die Zeit von ihm her sagen lassen. Ich will das in drei Gedanken auslegen.
  • Bei allem Engagement, das wir uns als Einzelne und als Gemeinde zugute halten mögen: Wenn wir die Augen davor verschließen, dass unsere Gegenwart von Tod und Gewalt geprägt ist, machen wir uns etwas vor. Wir haben unser Leben zumeist zwar recht gut abgeschirmt und abgepolstert. So gut sogar, dass es uns schwerfällt, uns schuldig zu fühlen, zu sehen, dass Haß und Gewalt und Tod etwas damit zu tun haben, wie wir als einzelne leben, uns einspannen lassen in den Mechanismus unserer Gesellschaft.
  • Dagegen sagt die Heilige Schrift: Die Zeit der Kirche ist eine Zeit des Kampfes. Wenn wir aufhören, um Reinheit und Gerechtigkeit zu kämpfen, haben wir das Lager Christi verlassen.
  • Das zweite aber gilt ebenso: Dieser Kampf, wenn wir ihn denn aufnehmen, ist getragen von Gott selbst. Jeder Versuch aus der Wahrheit zu leben, gegen die kleinen Verlogenheiten, aus der Gerechtigkeit zu leben, gegen die Selbstgerechtigkeit, aus der Nüchternheit, gegen das träge Völlegefühl einer Konsumwelt in der es keine Bedürfnisse mehr zu geben scheint - jeder solcher Versuch zu kämpfen ist dann ein Teil des universalen Heilshandeln Gottes, wenn wir ihn an der Seite Christi führen. Das aber heißt: wenn wir bereit sind, ernst zu nehmen, dass über dem Leben Christi ein Kreuz und kein Mercedes Benz steht.
  • Seit den frühen Jahrhunderten hat die Kirche als deutliches Zeichen dieser Zuversicht das Fest der Aufnahme Mariens in den Himmel gefeiert. In Maria ist an so vielen Stellen deutlich, dass Gottes unverbrüchliche Liebe unser ganzes Leben, mit Haut und Haaren meint. Maria steht nicht umsonst als Urbild der Kirche. Der Glaubenssatz von der Aufnahme der Frau, deren Herz ein Schwert durchbohrt, ist der Glaube an die Geborgenheit der Kirche unter dem Kreuz.
  • Und diese Geborgenheit hat ein Ziel. Paulus spricht davon, dass am Ende der Zeit Christus selbst, nachdem der Tod in der Demut des Kreuzes und im Weg der Kirche überwunden ist, Gott alles übergibt: Was wir tun hat sein Ziel in Gott. Unsere Zeit ist eine Zeit auf ihn hin. Und dies gerade dort, wo es nicht Hoch-Zeit ist, sondern die Zeit, in der wir an Christi Seite das Kreuz wahrnehmen und aufnehmen.
  • Das heißt es, zu glauben: Aus dem ehernen Gehäuse der technischen Zeit ausbrechen und meine Lebenszeit einschwingen lassen in die Zeit, in die wir von Gott her gestellt sind. Meine Seele preist die Größe des Herrn, denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut. In ihm ist der Sinn unseres Lebens verankert, in ihm kann das Hoch und Tief unserer Lebenszeit einmünden in die Zeit, die auf Erfüllung harrt: damit Gott herrscht über alles und in allem. Amen.