Predigt zum 30. Sonntag im Lesejahr A 2005 (Matthäus)
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23. Oktober 2005 - Universitätsgottesdienst, St. Ignatius Frankfurt
1. Wie kann man Gott lieben?
- Wann haben Sie zum letzten Mal Gott geliebt? Wenn sich die Frage auf eine
Frau bezöge und in einem Herrenmagazin stünde (oder vice versa)
ließe sich vielleicht eine Antwort vermuten. So aber ist die Frage zurückzuweisen.
Dabei ist es nicht nur unsinnig, nach einem Zeitpunkt zu fragen. Selbst wenn
man die theologische Literatur von Jahrhunderten durchgeht, hat man häufig
den Eindruck, dass das Ziel eher darin bestünde, Gott zu erkennen. Erkenne
Gott und liebe den Menschen! Mit dieser Forderung kämen wir besser zurecht.
Aber dennoch gebraucht Jesus in Bezug auf die Liebe zu Gott überschwängliche
Vokabeln: "mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele"; erst als
Drittes folgt "und mit all deinen Gedanken": Das Gebot
der Liebe zum Nächsten schließlich stellt Jesus dem Gebot der Gottesliebe
gleich.
- Unsere Übersetzung schreibt: "Ebenso wichtig ist das zweite".
Ein gutes Beispiel für die dringend nötige Überarbeitung dieser
Fassung, denn hier wird bereits interpretiert. Das Matthäusevangelium
schreibt: "deutéra dè homoía autä":
"das andere aber ist diesem gleich". Einander gleich sind
die Gebote der Gottes- und der Nächstenliebe. Die Übersetzung sollte
uns die Frage überlassen, worin sie nun gleich sind. Sind sie gleich
wichtig? Ist es ein und das selbe Gebot? Oder kommt gar zum Ausdruck, dass
Gottes- und Nächstenliebe ineinander übergehen, gar das eine in
das andere aufgeht? Diese Frage ist nur im Blick auf das Ganze des Evangeliums
zu beantworten - und in Bezug auf das, was wir das Alte Testament nennen,
denn Jesus sagt: "An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz
samt den Propheten."
- Wir glauben an Gott, der alles geschaffen hat. Darin besteht der biblische
Glauben: er ist universalistisch und doch nicht abstarkt. Israel ist geprägt
von der Erfahrung, dass der allmächtige Gott, Schöpfer des Himmels
und der Erde, sich ein Volk erwählt hat und diesem treu ist. Deswegen
kann ich Gott lieben, mit allen Kräften der Seele mich auf Gott ausrichten,
und wird genau das die Liebe fördern zu mir selbst wie zu dem Nächsten:
den Menschen, die mich Gott begegnen lässt.
2. Das Doppelgebot
- Gott zu lieben ist kein Akt, sondern eine Haltung. Deswegen zitiert Jesus
aus dem zentralen Gebet jedes Juden: "Höre, Israel! der HERR,
unser Gott, der HERR ist einzig. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben
mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft." (Dtn
6,4f). Da das Wort "Herz" im Hebräischen das Gedächtnis
mit umfasst (der Name Gottes ist auf das Herz geschrieben), variiert das Evangelium:
mit Herz, Seele und Gedanken. Die Grundhaltung des Menschen vor Gott ist gemeint;
jedes Gebet, jedes Studium der Heiligen Schrift und jeder Gottesdienst ist
Einübung in diese Grundhaltung.
- Nur von diesem ersten Gebot ist erklärlich, warum ich den Nächsten
lieben soll. Auch hier zitiert Jesus das Alte Testament. (Im Lied zur Gabenbereitung
werden wir diese Zitate aufgreifen (1).) Jeder Zuhörer
Jesu - der Gesetzeslehrer, dem er antwortet zumal - kennt den Kontext des
Satzes "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!"
im Buch Levitikus. Dort geht es um die Gerechtigkeit. Den anderen im Volk
Gottes soll ich nicht versagen, was ich für mich selbst erwarte: Respekt
und Gerechtigkeit. Den Fremden aber soll ich behandeln, als gehöre auch
er zu meinem Volk. Daran, sagt Jesus, hängt und erfüllt sich das
Gesetz und die Propheten: "Alles, was ihr also von anderen erwartet,
das tut auch ihnen!" (Mt 7,12).
- Zur Debatte um die Bedeutung der Selbstliebe will Jesus an der Stelle nicht
beitragen. Viele Beiträge zu dieser Diskussion in den letzten Jahrzehnten
scheinen mir mehr von Moden der Psychologie denn vom Evangelium geprägt
zu sein. Das Doppelgebot Jesu geht sicher von dem Fall aus, dass ich für
mich selbst Recht, Gerechtigkeit und Respekt erwarte - und deswegen dem Nächsten
es nicht vorenthalten soll. Dass aus dieser Übung des Respektes Liebe
wird, hängt zutiefst am ersten Gebot. Denn wer sich so in Gottes Gegenwart
versenkt, wird in jedem Menschen - in einem selbst und dem Nächsten -
diese Gegenwart entdecken. So kann aus Toleranz und Respekt tatsächlich
Liebe werden, Nächstenliebe.
3. Das Doppelgebot gedoppelt
- Das Doppelgebot ist so fundamental und einfach, dass es jeder zu jeder Zeit
verstehen kann. An ihm hängt die ganze Hl. Schrift. Von hier aus muss
es aber in unsere Zeit und Realität hinein entfaltet werden, um fruchtbar
sein zu können. Von dem Grundgebot des jüdischen und christlichen
Glaubens lässt sich nicht ableiten, was heute zu tun ist. Das Doppelgebot
aber ist unhintergehbarer Maßstab. Wenn Globalisierung und Medienprägung
Kennzeichen unserer Zeit sind, dann sehe ich beide Teile des Doppelgebotes
ihrerseits gedoppelt.
- Mit dem Nächsten, den ich lieben soll wie mich selbst, bin ich verbunden
in einer Kultur und einer Zivilisation. Unser Denken und
Handeln ist kulturell vorgeprägt und vielfach medial reproduziert. Deswegen
ist es zwar unerlässlich, aber reicht es nicht aus, dem konkreten Nächsten
Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Wir müssen uns auch gemeinsam unserer
Kultur, den Denk- und Handlungsgewohnheiten unserer Gesellschaft und unseres
Wirtschaftssystems stellen, die vielfach Missachtung des Menschen in sich
tragen und dem Evangelium entgegenstehen. Die Praxis der Gerechtigkeit und
der Liebe drängt daher zur Umwandlung der menschlichen Kulturen. Die
Kultur ist der Raum zwischen mir, jedem von uns und unserem Nächsten.
Die "Arbeit an der Kultur" ist daher Ausdruck der Nächstenliebe
und der Selbstliebe in einem.
- Und es gilt auch: der Gott, den ich mit ganzem Herzen liebe, ist der Schöpfer
aller. Ich kann von mir sagen, dass ich seine Offenbarung in Jesus Christus
und gegenüber dem ganzen Volk der Juden in der Hl. Schrift als großes
Geschenk erlebe. Mein Glaube hilft mir, Gott zu lieben. Aber eben diesen Gott
glaube ich als Schöpfer der ganzen Welt. Daher ist es die Liebe zu diesem
Gott, die uns dazu drängt, in allen Religionen und Kulturen die Gegenwart
Gottes zu erspüren, denn der Schöpfer aller Menschen ist keinem
Menschen fern.
- So kurz der Abschnitt aus dem Evangelium ist, so reich schließt er
uns das Feld auf, wie wir heute an der Hochschule Kirche sein können
und worin unser Auftrag besteht. Wir haben das zum Leitbild unserer Arbeit
in der Katholischen Hochschulpastoral in Frankfurt gemacht: Wir wollen unseren
christlichen Glauben leben und dafür Zeugnis geben, aber zugleich uns
einsetzen für die konkreten Anliegen der Studierenden und die Fragen
der Gerechtigkeit, aber zugleich teilnehmen und mitgestalten an der Kultur,
in der wir leben, und all dies im Dialog mit den Religionen und Traditionen
aller Menschen, die aus so vielen Ländern an den Frankfurter Hochschulen
präsent sind. Dies ist unser Auftrag auch für das neue Semester.
Amen.
Eine Nachbemerkung
- Mir scheint es wichtig zu verstehen, dass "Nächstenliebe"
und "Feindesliebe" zwei verschiedene Themen sind. Im heutigen Evangelium
geht es um die Frage, wie wir als Christen - ob Juden oder Heiden - das Gesetz
Gottes erfüllen. Es ist die Antwort auf die Frage "Was muss ich
Gutes tun, um das ewige Leben zu gewinnen?" (Mt 19,16). Der Weg,
den Jesus führt, geht darüber hinaus und ist nur möglich im
Wissen darum, dass das Reich Gottes Nahe ist, so nahe, dass ich sogar meinen
Feind lieben und für den beten kann, der mich verfolgt.
Anmerkungen:
(1)
KV: Höre Israel! Der Herr ist ein einziger Gott und du sollst den Herrn,
deinen Gott, liebhaben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, mit allen deinen
Kräften und deinen Nächsten so, wie dich selbst.
1. Diese Worte, die ich dir gebiete, sollst du dir zu Herzen nehmen. Diese Worte,
die ich dir gebiete, sollst du deine Kinder lehren.
2. Wenn du im Haus sitzt / oder auf dem Weg gehst, / sollst du da von reden.
/Wenn du dich hinlegst / oder wenn du aufstehst, / sollst du da von reden.
3. Bind sie zum Zeichen / an deine Hände, / dass sie dir vor Augen stehen.
/ Schreib sie an deine Pfosten des Hauses, / dass sie dir vor Augen stehen.
4. Du sollst den Nächsten / lieben wie dich selbst. / Nie sollst du den
Bruder hassen. / Du sollst den Nächsten / lieben wie dich selbst. / Übe
nie am Nächsten Rache.
5. Dir sei der Fremde / wie ein eigner Bruder. / nie sollst du ihn unterdrücken.
/ Dir sei der Fremde / wie ein eigner Bruder. / denn du warst selbst einst ein
Fremder.
T: 1-3 Helga Poppe nach Dtn (5 Mose) 6,4-9, 4-5 Frankfurt 2005 nach Lev (3 Mose)
19,17-18.33-34 M: Helga Poppe
(2)
aus dem Leitbild der Kath. Hochschulpastoral Frankfurt am Main:
Die Förderung der Gerechtigkeit und einer Praxis der Liebe,
/ geleitet durch den eigenen christlichen Glauben / zur Umwandlung der menschlichen
Kulturen, / und immer im Dialog mit anderen Traditionen.
Der Dienst am Glauben, / der die Gerechtigkeit fördert, / eintritt in die
Kulturen und sie verwandelt, / und dabei offen ist für andere Erfahrungen.
Das Mitwirken an der Gestaltung unserer Kultur / indem wir den eigenen Glauben
leben, / mit anderen Traditionen und Lebensentwürfen in Dialog treten,
/ uns einsetzen für Gerechtigkeit.
Der Dialog mit den Menschen, die uns begegnen, / dabei Zeugnis zu geben vom
Glauben der uns trägt, / aufmerksam für die Kulturen der Menschen,
/ in steter Sorge um Gerechtigkeit für alle.