Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt zum 32. Sonntag im Lesejahr C 2016 (2. Thessalonicher)

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6. November 2016 - Kleiner Michel (St. Ansgar), Hamburg

1. Unrecht als Unrecht offenbar

  • Das Vertrauen, dass Gott den Menschen nicht im Tod versinken lässt, sondern zum Leben zu rufen vermag, ist zur Zeit Jesu im Volk Israel noch keineswegs selbstverständlich. Jesus ist hier eindeutig. Doch dieses glaubende Vertrauen ist für sein Volk, wie wir in der Bibel nachvollziehen können, vielmehr im Laufe der Jahrhunderte erst langsam gewachsen.
  • Die Leseordnung hat als Zeugnis für diesen Glauben in den späteren Schichten des Alten Testamentes die sehr drastische Erzählung vom Martyrium der sieben Brüder und ihrer Mutter im 2. Buch der Makkabäer gesetzt. Hier wird verkündet: Gott hat diese Familie, die treu zu ihm gehalten hat, aus dem Tod zu retten vermocht, gegen alle Gewalt des Königs Antiochus. Das irdische Leben hat er ihnen grausam zerstört, das Leben in Gott aber ist stärker. Die Schilderung des Martyriums des Hl. Stephanus in der Apostelgeschichte geht sogar noch weiter: Dort verzeiht Stephanus sterbend seinen Mördern und betet für sie. Hier bereits, in der Vergebung, findet die Auferstehung statt. Denn dem eigenen Mörder vergeben zu können, ist bereits der Beginn des ewigen Lebens in der Geborgenheit der Liebe Gottes.
  • Manche meinen, daraus eine Regel machen zu sollen, die heißt: Als Christ muss man immer vergeben. Das aber ist falsch. Es ist manchmal sogar desaströs falsch! Denn mit dieser scheinbar frommen Regel wird unter Umständen ein Opfer der Gewalt noch zusätzlich ein Vorwurf gemacht. Es gibt sogar die sehr perfide Form der psychischen Gewalt, die einen Menschen erst quält und fertig macht und dann noch die moralische Keule hinterher schwingt: Als Christ musst Du vergeben! Vergebung jedoch ist erst dann möglich, wo das Unrecht als Unrecht offenbar geworden ist. Das Martyrium - wörtlich übersetzt Zeugnis - bezeugt daher nicht nur den vertrauenden Glauben des Opfers der Gewalt, sondern es macht zugleich die Gewalt offenbar.

2. Keine Zeit zur Vergebung

  • Es könnte sein, dass die Lesung aus dem zweiten Brief des Paulus an die Gemeinde in Thessaloniki einen solchen Kontext hat. In unserer Übersetzung heißt es "Betet auch darum, dass wir vor den bösen (wörtlich: deplatzierten) und schlechten Menschen gerettet werden". Paulus könnte von Menschen sprechen, die in der Gemeinde eine Rolle an sich gerissen haben, mit der sie letztlich Gewalt gegen andere ausüben, die andauert.
  • Wie in manchen Familien gibt es auch (und gerade) in besonders intensiv lebenden Gemeinden den Typus des einen, der sich nach vorne spielt, der versucht alle anderen in Abhängigkeit von sich selbst zu bekommen und brutal jeden verstößt, der sich dem widersetzt.
  • Dort wo Gewalt nicht offenbar ist, ist die Zeit zur Vergebung noch nicht gekommen. Es gibt Gewalt, die ganz unverhüllt geschieht. Aber oft genug ist es der selbe Mensch, der einzelne andere erniedrigt und quält, nach außen hin aber als der gute Mensch auftritt. Oft genug ist es der selbe Gewalttäter, der vorgibt nur dem guten Zweck zu dienen, aber mit jedem Satz, den er spricht, nur die eigene Rolle gegen alle Widerstände durchsetzt. "Betet darum, dass wir davor gerettet werden." Hier ist nicht die Zeit zur Vergebung, sondern höchste Zeit, das Unrecht aufzudecken.

3. Treue Gottes gegen den Tod

  • Wenn es stimmt, dass Paulus an eine Gemeinde schreibt, die sich mit einer solchen Situation auseinander setzen muss, dann ahne ich, was er meint, wenn er darauf hofft, Gott "tröste euch und gebe euch Kraft bei jedem guten Werk und Wort". Denn Widerstand gegen psychische Gewalt braucht diese Tröstung und braucht diese Kraft bei dem Versuch, den Kopf gegen die Verdrehungen und Verwirrungen klar zu bekommen, die die perfiden Formen der gewalttätigen Machtausübung auslösen - egal ob es sich um eine solche Machtausübung in einer Gruppe, in einer Familie oder in einer Beziehung handelt.
  • "Nicht alle nehmen den Glauben an", heißt es in unserer Übersetzung. Glauben bedeutet immer auch Vertrauen. Nicht alle können zu dem Vertrauen finden, dass Gottes Kraft ihnen beisteht. Diese Kraft fehlt vor allem dann, wenn die Unterdrückung im frommen Gewand daher kommt: "Du sollst Vater und Mutter ehren" - und gleichzeitig nehmen sie den Kindern die Luft zum Atmen! "Du musst verzeihen" - und gleichzeitig soll nur ja nicht offenbar werden, dass Unrecht geschehen ist.
  • Auferstehung, wie sie in der Bibel bezeugt wird, gehört in solch einen Kontext. Darauf vertrauen bedeutet, dass Gott auch schon in dieses Leben hinein Kraft geben kann gegen die List derer, die das Leben nehmen wollen. "Der Herr ist treu!", heißt dieser Glaube. "Jesus Christus, unser Herr, und Gott, unser Vater, der uns seine Liebe zugewandt und uns in seiner Gnade ewigen Trost und sichere Hoffnung geschenkt hat", er ist treu! Amen.