Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt zu Mariä Empfängnis - Lourdes 2009

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1. Juni 2009 - Malteser Lourdes Krankenwallfahrt

Die Predigt wurde gehalten im Juni 2009 in Lourdes/Südfrankreich bei einer Wallfahrt mit Kranken und Behinderten und hat das Fest der Unbefleckten Empfägnis zum Thema.

1. Gnade ist immer ganz

  • In der Menschenmenge drängelt sich eine Frau zu Jesus vor und berührt sein Gewand. Sie ahnt es und spürt es: Auch nur sein Gewand zu berühren ist eine Gnade. Viele Jahre hatte sie an Blutungen gelitten. Ärzte haben ihr nicht geholfen: Die Krankheit macht sie leer und saugt das Leben aus ihrem Leib. Die Berührung des Gewandes Jesu ist Ausdruck ihres Glaubens, dass Gott das Leben bewahren kann. Jesus sagt ihr: "Dein Glaube hat dir geholfen. Geh in Frieden!"
  • Sein Gewand zu berühren ist eine Gnade. An einem Ort zu sein und etwas zu berühren, das Gottes Gegenwart so spürbar macht, ist eine Gnade. Recht eigentlich aber ist schon der Glaube dieser Frau eine Gnade. Die Frau wird von ihren Eltern im Vertrauen auf die Treue Gottes erzogen worden sein. In der Gemeinde hat sie beten gelernt. Ihr Herz wurde bereitet für die Botschaft des Evangeliums. So konkret schenkt Gott ihr seine Gnade. Gnade ist, wenn Gott uns seine Gegenwart schenkt. Diese Frau hat Gottes Gegenwart inmitten des Volkes Gottes erfahren.
  • Hat diese Frau daher mehr Gnade bekommen, als andere Menschen, die nicht im Glauben groß werden durften? Hat sie mehr Gnade erfahren, als Menschen, die keine Gelegenheit haben, Jesu Gewand zu berühren? Die Frage ist allzu menschlich gestellt. Gott schenkt jedem Menschen seine Gnade ganz, aber auch jedem in besonderer Weise. Jeder, ob er den Glauben schon in seiner Familie lernen durfte, ob ihm das Evangelium erst als Erwachsenem begegnet ist oder ob er gar nie mit dem Evangelium in Berührung kommen konnte - jeder hat Gottes Gnade und darf an seinem Ort im Leben 'ja' sagen zu Gottes Liebe und Gnade. Und keiner bedarf der Barmherzigkeit Gottes weniger als andere.

2. Gnade ist Aufgabe

  • Und doch ist da etwas Besonderes mit der Frau, von der das Evangelium berichtet. Das Besondere ist, dass das Evangelium von ihr und ihrem Glauben berichten kann. Sie ist zum Teil der frohen Botschaft des Evangeliums geworden. Ihre Gnade ist es, dass sie nicht erst im Himmel die Freude der Gegenwart Gottes erfährt, sondern schon jetzt, in diesem Augenblick.
  • Gnade ist das unverdiente Geschenk, Gemeinschaft zu haben mit Gott. Man könnte daher auch sagen: Gnade ist, Liebe zu erfahren. Wer liebe Menschen hatte, Eltern oder Freunde, die ihn auf den Weg des Glaubens geführt haben, erfährt diese Gnade ganz bewusst schon in diesem Leben. Der Himmel beginnt dort, wo die Liebe geschenkt wird. Glaube ist dort, wo Menschen hier auf Erden ganz aus dem Vertrauen in Gott leben.
  • In der Lesung hieß es "Zum Dasein hat Gott alles geschaffen, und heilbringend sind die Geschöpfe der Welt." Kinder der Gnade sind berufen, als Geschöpfe Gottes den Menschen das Heil zu bringen. Das gilt für jeden einzelnen Getauften: Nicht für uns selbst haben wir diese Gnade erfahren, sondern, weil Gott so sein Volk auf Erden sammeln und allen Menschen seinen Segen schenken will. Daher ist die besondere Gnade der Frau im Evangelium zugleich die Aufgabe, Gottes Liebe weiter zu tragen. Gnade ist Gabe und Aufgabe zugleich.

3. Voll der Gnade

  • Zu Maria sagt der Engel: "Du bist voll der Gnade". Das, was wir von der Frau aus dem heutigen Evangelium gesagt haben, gilt daher in Fülle von Maria. Sie wurde mit der Gnade gesegnet, die Fülle des Glaubens Israel in ihrem Volk und ihrer Familie zu empfangen. Deswegen auch verehren wir ihre Eltern - nach der Tradition Anna und Joachim - als Heilige! Über zweitausend Jahre seit Abraham hat Gott in Scheitern und Neubeginn sein Volk geführt, damit aus Israel die Jungfrau Maria geboren werden konnte, die Gott im Hinblick auf seine eigene Menschwerdung so von der Ursünde bewahrt hat. Nichts durfte sich zwischen sie und ihr 'ja' zur Erlösung stellen.
  • Maria konnte ganz aus Gott leben, weil ihr die Fülle des Glaubens Israel geschenkt worden war. Sie hat die Fülle der Gnade empfangen. Aber auch Maria musste zu dieser Gnade ihr 'ja' sprechen. Dies nicht nur, als ihr der Engel die Geburt des Erlösers verheißen hat, sondern auch, als der zwölfjährige Jesus im Tempel oder Jesus in Kana oder Kafarnaum ihr deutlich machte, wer sein Vater ist. Sie musste auch ihr 'ja' sprechen zur Gnade, als sie unter dem Kreuz stand. Und gerade für Maria gilt, dass die Gnade, die sie empfangen hat, zur Aufgabe wurde: Ihren Muttersegen über die zu sprechen, die als Glieder der Kirche ihr als Kinder anvertraut wurden ("Frau, siehe dein Sohn!" Joh 19,26).
  • Wir feiern und bekennen die Unbefleckte Empfängnis. Wir feiern und bekennen damit, dass Gottes Gnade reines Geschenk und reine Liebe ist. Wir feiern dankbar, dass wir die Gnade empfangen durften durch den Glauben, der uns von unseren Eltern und Freunden weiter gegeben wurde. Wir feiern damit, dass Gottes Liebe und Segen uns aufgetragen wurde, dass wir einander segnen und diesen Segen weiter geben an die Menschen, die Gott uns begegnen lässt. So will Gott sein Reich der Liebe in die Welt tragen. Amen.