Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt zum 4. Fastensonntag Lesejahr B 2012 (Epheserbrief)

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18. März 2012 - Kleiner Michel (St. Ansgar), Hamburg

1. Plädoyer für die "Wir-Form"

  • Ich stelle mir vor, ein Journalist würde über den Fall von Christian Wulf in der Wir-Form schreiben. Er schriebe, nicht er, der Minister- und Bundespräsident habe dieses und jenes getan, sondern wir hätten dies getan (und im Falle Wulf muss man ja sagen: mutmaßlich). Wir haben uns einladen lassen, um bei den Reichen und Schicken dabei zu sein; wir haben Freundschaften gepflegt; wir haben uns Vergünstigungen gewähren lassen und dafür gerne einen Gefallen getan.
  • Ich habe sagen hören, es sei gang und gäbe, verbreitet und gepflegte Gewohnheit, dass Journalisten Vorteile von Firmen in Anspruch nehmen, ohne dass klar wäre, ob das mit objektivem Journalismus zusammengeht. Das aber meine ich gar nicht mal. Ich frage mich, ob es nicht überhaupt wichtig wäre, in der Wir-Form zu sprechen, statt in der Er-/Sie-Form: Also statt "Er hat dies getan..." besser "Wir haben dies getan...". Gegen diese Sprechweise spricht natürlich, dass dadurch Verantwortlichkeiten verwischt werden. Für diese Sprechweise spricht aber, dass damit eine tiefere Dimension benannt wird. Das Tun des einen hängt immer auch mit "uns" zusammen.
  • Kein Zeitalter betont die Freiheit des Einzelnen so, wie das unsere. Und zugleich wissen wir heute mehr denn je, wie sehr unser Denken und Handeln ökonomisch und psychologisch, gruppendynamisch und gar genetisch bedingt ist. Freiheit ist nicht der Normalfall, sondern muss errungen werden gegen den Strom von Meinungen, Zwängen und Bedingtheiten, in dem ich schwimme. Bei aller Verantwortung des Einzelnen gäbe es daher genug Anlass darüber nachzudenken, ob wir nicht öfters Mal die "Wir-Form" wählen sollten, statt nur auf andere zu zeigen und sich darüber zu empören, was diese getan haben.

2. Keiner kann sich rühmen

  • Im Erfolg sind wir zur "Wir-Form" schnell bereit. Wer gehört nicht gerne zu einer Gruppe, die strahlend dasteht? Gerade das aber führt immer wieder dazu, dass Schwachstellen ausgeblendet und Schuld verdrängt oder auf einen Sündenbock ausgelagert wird. Bei den Guten sind wir gerne dabei, die Bösen sind die anderen - oder der eine von uns, von dem wir uns schnellstmöglich getrennt haben.
  • Gegen diese Dynamik steht die Bibel in diametralem Kontrast! Wenn die heutige Lesung aus dem Alten Testament von der Schuld an herrschender Ungerechtigkeit spricht, dann wird durchaus differenziert: "führende Männer und die Priester und das Volk", sie tragen in unterschiedlicher Form Verantwortung. Aber wenn - ganz in der Tradition der alttestamentlichen Propheten - dann aus dem Neuen Testament der Apostel Paulus im Epheserbrief zu Wort kommt, dann heißt es: "wir, die wir infolge unserer Sünden tot waren".
  • Da es hier um die Wirkung der Taufe geht, ist jede Schuldzuweisung an andere unangemessen. Der Epheserblick nimmt vielmehr "uns" alle in den Blick, wenn er feststellt, wie tot wir sind, wenn uns das fehlt, was das Leben ausmacht: Lebendige, lebensfördernde, liebevolle Beziehung mit Gott und untereinander.
    Das ist etwas, das uns alle betrifft, weil "keiner sich rühmen kann", das wären nur die anderen. Das Evangelium hingegen besteht darin, dass Gott selbst Mensch wird, sich an unsere Seite stellt und mit uns das "wir" spricht. Die Taufe bedeutet daher: Teilhaben an jenem Schicksal der Menschen, an dem Gott in Christus Jesus teilhat, damit wir gemeinsam zum Leben finden.

3. Himmlisches Jerusalem

  • Das Ziel ist das Leben. Darauf hin hat Gott die Welt geschaffen. Daraufhin ist er Mensch geworden. Daraufhin haben wir die Taufe empfangen. Dies ist das Ziel. Gott "hat uns mit Christus Jesus auferweckt und uns zusammen mit ihm einen Platz im Himmel gegeben." - "Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richtet, sondern damit die Welt durch ihn gerettet wird." Die Auferweckung, von der hier die Rede ist, meint nicht ein Ereignis jenseits des biologischen Todes, sondern etwas, das hier, in diesem Leben beginnt, dort wo der wahre Tod, der Beziehungstod lauert. Indem Christus diesen Tod, ausgegrenzt am Kreuz, auf sich nimmt, führt er zu beibendem Leben.
  • Den Ort dieses bleibenden Lebens beschreibt die Bibel mit "Jerusalem". Der Name verweist auf eine geographisch konkrete Stadt, aber auch darauf, dass Gott selbst eine neue Stadt, eine neue Weise des Zusammenlebens heraufführt. Das himmlische Jerusalem ist nicht von Menschenhand gemacht und bei Google Maps nicht zu finden (unter "Jerusalem, Heaven" findet man dort an erster Stelle einen Massagesalon, dann den Tempelberg und dann die Himmelfahrtskapelle). Der Epheserbrief nennt das Gemeinte einen "Platz im Himmel". Und dennoch ist das nicht einfach Jenseits, sondern kann und soll hier erfahrbar sein; hier sind wir dazu bestimmt, "in unserem Leben die guten Werke zu tun".
  • Die "Wir-Gruppe" der Getauften jubelt nicht über die eigene Gerechtigkeit, um sich über andere erhaben zu fühlen. Wo eine christliche Kirche das dennoch tut, stellt sie sich in Gegensatz zum Evangelium.
    Ja, wir können und sollen auch und gerade in der Kirche davon sprechen, wenn Mächtige sich am Rande des Rechts bewegen und sich Vergünstigungen gewähren lassen und dafür gerne einen Gefallen tun. Ja, die Kirche ist ein Ort über Schuld zu sprechen. Aber wir beginnen den Gottesdienst mit einem Schuldbekenntnis und sprechen das "Herr, ich bin nicht würdig...." vor der Heiligen Kommunion, weil der Weg vom Tod zum Leben, von der Schuld zur Freude über die "Wir-Form" führt, darüber zu sprechen. "Gott aber, der voll Erbarmen ist, hat uns, die wir infolge unserer Sünden tot waren, in seiner großen Liebe, mit der er uns geliebt hat, zusammen mit Christus wieder lebendig gemacht."