Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt zum Requiem für die Erdbenopfer in Haiti 2010

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21. Januar 2010 - Kleiner Michel (St. Ansgar), Hamburg

1. Die Not klagt an

  • "Ganz Israel schrie mit aller Kraft zum Herrn; denn der Tod stand ihnen vor Augen." Das Buch Ester berichtet vom Schrei des Volkes in Todesgefahr. Aber auch wenn Gott dieses Mal den Schrei gehört hat, was hilft es? Wie oft schreien Menschen zum Himmel und es kommt keine Rettung?
  • Die Not klagt an. Diese Klage ist nicht in Statistiken zu fassen. Das Leid ist nicht allgemein. Es ist nicht ein Kapitel der allgemeinen Geschichte, ein zwischenzeitliches Straucheln auf dem Weg des Fortschritts. Das Leid ist das Leid von Menschen, Kinder, Mütter, Väter, Alte, Junge. Es ist immer das Leid von ganz bestimmten Menschen, und zumeist bleibt es privat. Wenn das Leid aber ein ganzes Land trifft, hunderttausend Tote, dann ist es für alle unübersehbar. Unübersehbar und doch sind es immer einzelne, ganz bestimmte Menschen, die das Leid und den Tod erfahren.
  • Die Not klagt an. Sie klagt Gott an. In Haiti gibt es keinen, auf den es einfachhin abgeschoben werden kann. So sehr es durchwoben ist von der Geschichte eines Landes, in dem das Volk schon lange ohne Gerechtigkeit und Aussicht auf Wohlstand leben muss: Das Erdbeben trifft alle. Wir können es nicht wegerklären und bösen Menschen in die Schuhe schieben. Menschen tun jetzt, was sie können. Sie helfen, sie spenden, selbst das Militär versucht sich von seiner guten Seite zu zeigen. Aber die Not und das Leid, sie bleiben. Und die Not klagt zu Gott. Sie klagt Gott an.

2. Antworten

  • Vor 255 Jahren zerstörte ein vergleichbares Erdbeben Lissabon. Ganz Europa stand unter Schock. Goethe, damals noch ein Kind, hat diesen Schock sein Lebtag lang nicht vergessen. Auch damals halfen Menschen aus anderen Ländern mit Spenden. Auch damals versuchte man zu verstehen. Erstmals hat man versucht, Erdbeben wissenschaftlich zu untersuchen. Vor allem aber mussten sich Christen fragen lassen: Wo ist euer Gott?
  • Die Antwort haben wir auch heute nicht. Oder, vielleicht, haben wir zu viele Antworten. Wie Gott das Leid zulassen kann, wurde in vielen Büchern und in vielen Predigten gefragt. Viele Antworten wurden gegeben. Viel Tiefsinniges ist da zu finden. Aber all die Antworten verstummen, wenn wir in das Angesicht eines Menschen schauen, der unschuldig zum Opfer wird. Tausende müssen in Haiti in anonyme Gräber gebracht werden. Deswegen ist das Trauerbild, das hier aufgestellt wurde leer. Es steht aber für Menschen, vor deren Schicksal wir verstummen wie vor dem Kind, das die Leichen seiner Eltern in den Trümmern des Hauses sucht.
  • Wir Christen müssen uns fragen lassen, wo unser Gott in Haiti ist. Mehr noch: Wir müssen uns fragen lassen, wer dieser Gott ist, der diese Welt so geschaffen hat. Unser Glaube funktioniert nicht. Er befreit nicht von Angst, wenn wir nur die richtigen Mediationsmethoden anwenden. Er beantwortet nicht alle Fragen, wenn die Theologen nur klug genug wären. Wir können uns nicht damit entschuldigen, dass der Glaube an den Fortschritt der Geschichte durch Auschwitz und millionenfachen Hunger als Selbstbetrug entlarvt ist. Wir müssen uns eingestehen, dass unser Glaube nicht funktioniert als Alltröstung und Allerklärung. Wir können Gott nicht funktionieren machen.

3. Den Menschen schuldig

  • Wie schön wäre es, wenn man Gott löschen könnte wie ein Computerprogramm, von dem sich herausstellt, dass es nicht funktioniert, wie es sollte. Aber wer erfahren hat, dass dieser unbegreifliche und unverfügbare Gott existiert, dem ist es dieser Ausweg verschlossen. So gerne wir den Glauben als Tröstung und Erklärung verkaufen wollen - uns und anderen - es gibt die Grenzsituationen, an denen wir keinen Trost finden und keine Erklärung hinreicht. Gott funktioniert nicht.
  • Haiti zwingt uns, Gott auszuhalten. Wir müssen aushalten, dass Gott unbegreiflich und dennoch Gott ist, nein, gerade weil er Gott ist. Wir sind seine Schöpfung. Der Anfang und das Ende liegen nicht in unserer Hand. Das "Dies Irae", das in diesem Requiem gesungen wird, hält dies wach. Aber mit der Unverfügbarkeit Gottes ist auch das andere wach: Die Erinnerung an den Menschen. An Gott zu glauben, bedeutet, den Menschen nicht zu vergessen. Wir sollen alles tun, was wir tun können und in diesen Tagen geschieht viel. Wenn wir aber in diesem Gottesdienst keine Kollekte sammeln, dann deswegen, weil wir um der Menschen willen lernen müssen auszuhalten dort, wo unser Tun und Verstehen an ein Ende kommt.
  • Was wir tun können ist das eine. Was wir sein können in diesem Augenblick das andere. Wir sind Menschen, die ihrem Gott das Leid hinhalten. Wir sind Menschen, die beten. Wir dürfen dies tun, weil in Haiti die Menschen beten. Deswegen auch dürfen wir die verzagten Strahlen der Hoffnung zur Sprache bringen. Wir werden in diesem Gottesdienst das Brot brechen und sogar von der Auferstehung sprechen. Wir wagen damit, auf die Zusage Gottes zu trauen, das die Menschen Namen in seine Hand geschrieben sind. Wir tun dies nicht, weil dies die Antwort ist, sondern weil das erinnert an das Leid, das zu Gott schreit. Das sind wir den Menschen schuldig. Amen.