Predigt zum 12. Sonntag im Lesejahr B 2000 (2. Korintherbrief)
Zurück zur Übersicht von: 12. Sonntag Lesejahr B
25. Juni 2000 - St. Michael, Göttingen
1. Wer ist dieser Mensch?
- Das Meiste, das wir Tag für Tag sehen und erleben, können wir
einordnen. Vieles ist neu. Manches ist ungewohnt. Der Mensch
besitzt aber, wenn er psychisch gesund ist, die Fähigkeit, Neues in den
Zusammenhang des Bekannten zu stellen. Das gilt für unsere
Sicht auf einen anderen Menschen ebenso wie für das, was man unser
Weltbild nennt. Nur selten passiert es, dass der
Zusammenhang des Erkennens selbst kippt. Meist geschieht das nicht durch
einzelne Ereignisse, sondern durch eine Fülle von
Einzelheiten, die bewirken, dass unser Weltbild umschlägt.
Paradigmenwechsel nennt das die Wissenssoziologie. So ein Umsturz im
Weltbild allein hat die Chance, auch mein Handeln dauerhaft zu
verändern, zu verwandeln. Wenn Paulus schreibt: "Die Liebe Christi
drängt uns, da wir erkannt haben...", dann ist das so ein Fall: umstürzende Erkenntnis, Liebe, die zum Handeln drängt.
- Die Jünger, die mit Jesus bei stürmischem Wetter im Boot sitzen, haben schon allerhand von Jesus erfahren. Sie haben seine
besondere Nähe zu Gott gesehen und erlebt, welche Autorität er hat und was er kann. Aber irgendwie hat das alles noch in ihr
Weltbild gepasst. Bis jetzt.
- Das Neue in dem Ereignis vom Seesturm liegt vielleicht in der
souveränen Ruhe, mit der Jesus schläft, sicher in der Vollmacht, mit
der er dem Sturm gebietet. Auf jeden Fall aber war es nichts mehr, das
die Jünger einfach hin dem bisher Bekannten ein- und
unterordnen konnten. Die alten Muster passen nicht mehr. Jesus ist nicht
wie ein anderer Mensch, nur halt von allem etwas mehr.
Die Frage bricht aus den Jüngern heraus: "Wer ist dieser Mensch?" Diese Frage signalisiert den Paradigmenwechsel. Die Jünger
fragen nicht mehr, was dieser alles kann, sie fragen, wer dieser ist.
2. Für alle gestorben
- Paulus hatte Jesus selbst nicht mehr kennen gelernt. Aber bekanntlich hat ihn die Begegnung mit Jesus, dem Gekreuzigten und
Auferstandenen, vor Damaskus buchstäblich aus dem Sattel geworfen. Er hatte eine Erfahrung gemacht, ihm ist ein Licht
aufgegangen, wodurch er alles neu sah - und sein Handeln radikal änderte. Das Kreuz, der Tod Jesu am Kreuz, war für Paulus das
Faktum, das den Sinnesumsturz auslöste. Ihm ist die göttliche Lebenskraft dieses Todes ins Bewusstsein gebrochen.
- Paulus spricht davon, dass dieser Tod kein Sterben "für sich" war,
trotz aller Einsamkeit des Gekreuzigten. Er bekennt von diesem
Tod, dass er ein Tod "für alle" war. Kein Tod "für viele", wo sich einer heldenhaft opfert, damit die anderen entkommen können,
sondern ein Tod "für alle". Es geht ganz offensichtlich weder um die äußeren Umstände, noch um die guten Vorsätze, zumindest ist
das nicht das Entscheidende.
Wir können uns anstrengen wenigstens für einen oder einige andere
Menschen da zu sein, wir können in eine Ausnahmesituation
geraten, wo die Situation entsteht, für viele das eigene Leben einsetzen
zu können oder zu müssen. Das alles geht irgendwie noch im
Rahmen des Normalen, durch Situation, guten Willen, Mühen und Ehrgeiz
Beflügelten. All das aber ist nicht gemeint mit dem Tod
"für alle"; dieser ist nicht erreichbar durch Willensanstrengung.
- Die Dimension des "für alle" wird nicht durch ins Extrem gesteigerte Leistung erreicht. Jesus kann nicht den Tod für alle sterben
durch das, was er tut, sondern nur durch das, was er ist.
Daher ist es nicht entbehrlich, das Glaubensbekenntnis zu sprechen, denn hier bekennen wir, was dieser Mensch ist: Wahrer Mensch
und Wahrer Gott. Jesus ist Gottes Sohn, in ihm nimmt Gott selbst teil an unserer Geschichte. Nur deswegen, weil Gott Schöpfer der
Welt ist, nur deswegen, weil in Christus alles geschaffen ist, nur deswegen, weil der Mensch nicht anderes denn nach dem Abbild
Gottes geschaffen wurde, kann der Tod dieses einen alle erreichen, kann durch das Wort dieses einen das Tosen des Todessturmes
zum Verstummen gebracht werden.
3. "...da wir erkannt haben"
- Der Unterschied zwischen Erfahrungen, die wir zum Bisherigen dazuordnen, und umstürzenden Erfahrungen ist, dass letztere nicht
nur unser Denken und Analysieren, sondern auch unser Handeln verändern, möglicherweise grundlegend. Wo unser Weltbild kippt,
wo unser Bild über den anderen wirklich sich vom Kopf auf die Füße stellt, bringt das auch uns selbst in Bewegung.
- " Die Liebe Christi drängt uns, da wir erkannt haben",
bekennt Paulus. Er hat nicht eine ganz interessante, lehrreiche,
beeindruckende neue Erkenntnis, sondern er hat etwas erkannt, das ihn
drängt. Es drängt ihn nicht, weil jemand ihn aufgefordert hat,
ihm befohlen hat oder weil er neue moralische Imperative erkannt hätte.
Es drängt ihn, weil ein neues Sein in ihm aufgebrochen ist.
Die Liebe Christi drängt ihn. Es drängt ihn, weil ihn die Erkenntnis
umgeworfen hat, wer dieser Mensch ist: nicht ein
skandalerregender Hochstapler, nicht ein zu Recht als Gotteslästerer
Verurteilter, auch nicht einer von den vielen, die gutmeinende
Predigten halten, sondern Gottes Gegenwart, Gottes Sohn, Gott, der
unseren Tod auf sich genommen hat, um uns alle vor der
Endgültigkeit eines gottfernen Sterbens zu bewahren.
- Paulus benennt die Konsequenz dieser Erkenntnis in seinem Handeln. So wie er Jesus nicht mehr nur nach menschlichen Maßstäben
einschätzen kann, so hat sich sein Blick auf jeden Menschen verändert, den Christus berühren will. "Das Alte ist vergangen, Neues
ist geworden." Durch die Geschichte Jesu hat sich die Geschichte der Menschen verändert, hat sich das Sein der Menschen
verändert, mit denen Paulus zusammentrifft. So "schätzen wir von jetzt an niemand mehr nur nach menschlichen Maßstäben ein;
auch wenn wir früher Christus nach menschlichen Maßstäben eingeschätzt haben, jetzt schätzen wir ihn nicht mehr so ein". Wenn
diese Neueinschätzung wirklich vollzogen wird, ändert sich die Welt und ändert sich mein Handeln, weil ich dann auf Schritt und
Tritt Gott begegne. Amen.