Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt zum 23. Sonntag im Lesejahr B 2000 (Markus)

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10. September 2000 - St. Michael, Göttingen

1.. Ursachen

  • Man bringt einen Taubstummen zu Jesus. Über das Wie und Warum erfahren wir nichts. Wir wissen nicht, ob der Mann von Geburt an taub war und daher nicht sprechen konnte, oder ob es eine Entwicklung war, dass dieser Kranke so ganz von seiner Umwelt isoliert wurde, nicht zu sprechen, nicht zu hören vermag. Auffällig ist nur, dass nicht der Kranke selbst zu Jesus kommt, sondern es andere sind, die ihn zu Jesus bringen. Sind das hilfreiche Freunde oder sind das genau die Menschen vor denen sich der Taubstumme abkapselt? Wir wissen es nicht.
  • Krankheiten sind nie so eindeutig. Am Wenigsten ist es eine Krankheit, die das Mitleben in der Gemeinschaft so sehr betrifft wie Taubheit. Immer gibt es eine Beziehung zwischen dem körperlichen Gebrechen und den Lebensumständen. Immer ist nicht nur der betroffen, dessen Ohren nicht hören und dessen Zunge gebunden ist. Immer sind auch andere darin verwickelt - als Täter und Betroffene. Was hat der Kranke von Menschen erfahren, dass er taub wurde? Oder wie sind die Menschen mit dem umgegangen, dessen Gehör nicht so funktionierte, wie es als normal gilt? Und umgekehrt: Was richtet diese Isolation in der Seele des Menschen an? Hat der Kranke die Kraft gehabt, gegen seine Behinderung und gegen die Reaktionen seiner Umwelt nicht zu verbittern, sich nicht zusätzlich zu isolieren?
  • Die Krankheit ist kein individuelles Schicksal des Taubstummen, das keine Zusammenhang hätte mit dem, was um ihn herum geschieht. [Zumindest ist das die Auffassung des Evangeliums. Zu deutlich sind in dem Bericht bei Markus zwei Szenen in Gegensatz zueinander gebracht:
    Vor dem heute als Evangelium gelesenen Abschnitt wird uns berichtet, dass Jesus durch heidnisches Land gezogen ist und dort auf so großen und unerschütterlichen Glauben gestoßen ist, wie nirgends in Israel. Wenn daher nun, zurück im Land der Juden, die Menschen einen Taubstummen zu Jesus bringen, dann bringen sie damit ihre Situation vor ihn. Das Evangelium sieht in dem Volk dieser Städte Menschen, die taub sind für das Wort Gottes und stumm sind, wo es gilt, Gott zu loben und seiner Gerechtigkeit eine Stimme zu geben.]

2. Krankheit

  • Taubheit ist eine Krankheit, deren Aktualität wir leicht unterschätzen. Untersuchungen gehen davon aus, dass mittlerweile mehr als ein Drittel der Unter-Dreißig-Jährigen schwere Hörschäden haben. Für ältere Menschen ist es ohnehin eine Behinderung, die sehr häufig ist. Aber die Krankheit ist nicht ein isoliertes medizinisches Problem. Viel weiter geht doch die Sorge, was mit einer Gesellschaft passiert, in der Schwerhörigkeit zur Volkskrankheit geworden ist.
    Jeder, der mit Schwerhörigen zusammenlebt oder selbst betroffen ist, weiß, dass nichts mehr so ist wie früher. Nur mit Konzentration kann man an einem Gespräch teilnehmen und wenn es am Tisch durcheinander geht, hilft manchmal nur noch das Abschalten des Hörgerätes. Wie verändert sich unsere Gesellschaft, wenn das zum Normalfall wird? Es steht zu befürchten, dass wir uns daran gewöhnen.
  • Denn ohnehin ist das, was hier als Krankheit beim Einzelnen auftritt schon längst Teil unserer Kultur geworden. Jeder isoliert vom anderen, nur noch Punkt-zu-Punkt-Kontakte zur Welt um mich herum. Aufdrehen oder Abschalten bleiben die einzigen Alternativen, nichts dazwischen. Was Krankheit der Ohren ist, frisst die Seele auf und was Krankheit der Kultur ist, verstopft dass Ohr und lähmt die Zunge. Taubstumm - das große Sinnbild einer Kultur, die sich selbst nicht mehr begreift.
  • Ein bitteres Bild. Ein falsches Bild sicher, weil die Mehrzahl der Menschen mit Schwerhörigkeit gegen diese Krankheit kämpfen und versuchen, ihr Leben unter den neuen Bedingungen zu leben. Aber das Bild des Tauben, der nicht mehr hört, was um ihn herum geschieht ist ein Spiegel für eine tiefer sitzende Krankheit. Es ist das Bild eines Menschen, der es gar nicht mal bedauert, dass ihn kein Laut mehr erreicht aus der Welt um ihn herum. "Ganz im Gegenteil, die Stille lieferte ihm den sicheren und endgültigen Beweis, dass auf dieser Welt nur eine einzige Wahrheit existierte, seine; eine einzige Denkungsart, seine; ein einziges Wort, seines." Die Welt schweigt, und ist nur noch der leere Raum für einen unendlichen Monolog. (Zitat, vgl. Literaturhinweise)

3. Heilung

  • Die Heilung kann nur beim Menschen ansetzen. Sie kann aber nicht am Ohr halt machen, sie muss das Herz und die Kultur erfassen, die von der Krankheit befallen sind. Jesus bringt dem Taubstummen Gehör und Sprache. Nicht nur dass Jesus die Krankheit heilt ist bedeutsam, sondern auch wie. Noch einmal betont: Wir wissen nicht wie und warum dieser Mensch, den man zu Jesus brachte, taubstumm war. Es darf nie angehen, dass jemand ein Urteil fällt über einen Menschen der taub oder stumm ist. Krankheit ist nicht Schuld - zumindest wird die Schuld oft nicht beim Kranken liegen. Krankheit ist Symptom und ist Ursache, Leib und Seele greifen ineinander. Sehen wir uns daher an, wie Jesus den Kranken heilt.
  • Der Kranke wird von anderen zu Jesus gebracht. Aber Jesus schließt als allererstes diese Leute aus. Gott heilt nicht durch öffentliche Spektakel. Vor allem redet Jesus nicht auf den Kranken ein. Er schreit ihn nicht an, wie Schwerhörige das oft erleben. Jesus wählt das stumme Zeichen. Er legt den Finger an das Ohr des Kranken. Es ist die Zärtlichkeit Gottes die überrascht. Wo wir grunderschütternde Ereignisse erwarten, ist nicht mehr als die Behutsamkeit Gottes. Was Jesus dann tut ist uns fremd. Jesus nimmt von seinem Speichel und berührt damit die Zunge des Kranken. In der Antike sah man im Speichel nicht den Bazillenherd, sondern einen Sitz der Kraft des Menschen. Jesus nimmt von dem, was er selbst ist und gibt es dem Kranken. Er urteilt nicht von Ferne und heilt nicht von Ferne, sondern gibt sich selbst. Er blickt, wenn er heilt, zum Himmel, weil er von dieser einzigartigen Beziehung zu Gott dem etwas gibt, den er heilt. "Öffne dich!" Wenn wir Gott nicht mehr das an uns tun lassen, wenn wir Gott nicht mehr zugestehen, dass er von sich gibt um uns zu schenken - Gnade! - dann wird die Selbstisolation einer taubstummen Kultur nicht überwunden werden.
  • Denn was hier so ganz persönlich an einem Kranken geschieht ist zugleich Zeichen für das, was angebrochen ist. Der Prophet Jesaja hatte es verheißen: "Sagt den Verzagten: Habt Mut, fürchtet Euch nicht!" Gott kommt und wird die Ohren öffnen und die Zunge lösen! Wie Jesus heilt zeigt uns, wie Gott uns begegnet. Dass er sie heilt, ist ein Zeichen, dass Gott erfüllt, was Gott verheißen hat. Es ist nicht einfach nur Therapie eines Kranken sondern Beginn des Reiches Gottes. Amen.

 


 

Literaturhinweise

  • Vassalli, Sebastiano: Das Gold der Welt. München, Zürich (Piper) 1994, S. 34
    Nach einer Granatenexplosion ist der Vaters des Erzählers, den dieser immer nur "den Infamen" nennt, völlig taub:

    "Für jeden anderen wäre ein ähnliches Gebrechen eine Katastrophe gewesen. Für den Infamen keineswegs. Ganz im Gegenteil, es lieferte ihm den sicheren und endgültigen Beweis, dass auf dieser Welt nur eine einzige Wahrheit existierte, seine; eine einzige Denkungsart, seine; ein einziges Wort, seines. Die Welt schwieg, und er sprach..." 
  • Weber, Hans-Ulrich: Gehörlosigkeit - die gemachte Behinderung. Unterscheidung der psychischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit der Hörbehinderung. Heidelberg (Groos) 1995.