Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt zum 4. Fastensonntag Lesejahr B 2024 (Psalm)

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10. März 2024 - St. Peter, Sinzig

1. In der Fremde

  • Nur in der Fremde ist der Fremde fremd. Das klingt nicht nur originell. Das ist sogar richtig. Erst abseits der Heimat wird der Mensch zum Fremden. Im Spiegel der anderen erlebt er sich als Fremder. Die Sprache, die Gebräuche, die Reaktions- und Verhaltensweisen sind anders. Daher rührt es, dass nirgends so sehr nach Heimat gesucht wird, wie in der Fremde. Im Exil stellt sich mit ganzer Wucht die Frage: Wer bin ich? Was macht uns aus in unserer Besonderheit gegenüber all denen, unter denen wir fremd sind?
  • Wir können Fremde fragen, die unter uns leben. Sie helfen uns die erste Lesung des heutigen Sonntags und den Psalm 137 zu verstehen. Vom Jahr 586 v.Chr. an für bald 50 Jahre lebten die Israeliten aus Juda im Exil in Babylon, der Hauptstadt der Chaldäer. Jerusalem war zerstört. Nur die unterste Schicht, die einfachsten Leute, hatte der König Nebukadnezzar in Juda zurückgelassen. Alle Gebildeten und Vermögenderen wurden entweder ermordet oder nach Babylon verschleppt. Fünfzig Jahre des Babylonischen Exils folgten.
  • Kein Mensch verlässt seine Heimat ohne schwerwiegenden Grund. Die Israeliten wurden verschleppt, weil der König von Babylon so ein für alle Mal das Widerstandsnest ausheben wollte, das sich immer wieder gegen seine Herrschaft auflehnte oder mit dem Erzfeind Ägypten paktierte. Bis dahin hatten die Könige von Israel die Identität ihres kleinen Volkes darin gesucht, so zu tun, als könnten sie mitspielen im Spiel der Großreiche. Diese Kerle, die mit Anfang 20 zum König gekrönt wurden und zumeist nichts anderes im Sinn hatten als ihre Macht, konnten sich nicht vorstellen, dass Israels Identität in etwas ganz anderem liegt. Sie hörten nicht auf die Propheten. So verlor Israel seine Staatlichkeit, seine Könige, all das, was seine Identität auszumachen schien.

2. Trauer und Klage

  • Nun sitzen sie an den Strömen von Babylon und weinen. Der Psalm 137 folgte heute als Zwischengesang der Lesung. Es ist die Trauer des Verlustes, die erst erkennen lässt, was Israel hatte. Denn erst in den fünfzig Jahren des Exils bildet sich das Bewusstsein heraus, was eigentlich für dieses Volk die Identität. Was macht uns aus? Unsere Sprache, unser Schicksal, unsere Trauer? Nein, es ist, dass dieses Volkes das Volk von Gottes Bund ist. Erst ab den Jahren des Exils hat man systematisch begonnen, die Traditionen der Alten zu sammeln und in Schriften zusammenzustellen. Erst ab hier entstehen biblische Bücher, so wie wir sie kennen.
  • Der Blick geht zurück. Der Chronist, dem wir die Lesung verdanken, schreibt "Das Land bekam seine Sabbate ersetzt, es lag brach während der ganzen Zeit der Verwüstung, bis siebzig Jahre voll waren." Der Chronist selbst hat dies wohl erst einige Zeit später geschrieben. Aber es spricht einiges dafür, dass tatsächlich in jenen Jahren im Exil es möglich wurde, die Vergangenheit zu deuten.
    In den vier Jahrhunderten, in denen Könige in Jerusalem regiert hatten, wurde dem Land allzu oft der Sabbat vorenthalten: jener Tag, der an den Schöpfer aller erinnert und an dem auch der Sklave teilhaben darf an der Ruhe des Schöpfers. Im Blick zurück wird deutlich, wie wenig dieses Königreich in Israel und Juda der Gerechtigkeit Gottes verpflichtet gewesen war. Darin lag der Keim des Untergangs.
  • Die Trauerklage in Babylon blickt aber auch nach vorn. Im Psalm heißt es, die Babylonier wollten, dass die Juden an den Strömen Babylons die lustigen Lieder ihrer Heimat singen. Als Folklore wäre das willkommen. Dies aber verweigern die Israeliten. Lieber hängen sie die Harfe in die Bäume. Stattdessen machen sie das feierliche Versprechen "Die Zunge soll mir am Gaumen kleben, wenn ich deiner nicht mehr gedenke, wenn ich Jerusalem nicht mehr erhebe zum Gipfel meiner Freude." Mit dieser Grundhaltung wird der Israelit in Babylonien keinen Integrationstest bestehen. Der Psalm verweigert den Jubel in der Fremde. Gottes Heiliger Berg Zion allein ist Mittelpunkt seiner Sehnsucht.

3. Fastenzeit

  • Fastenzeit ist Zeit der Trauer und der Sehnsucht. Als Jesus gefragt wird, warum denn seine Jünger nicht fasten, antwortet er, dass doch niemand fasten könne, solange Hochzeit ist und der Bräutigam bei ihnen sei. Erst wenn ihnen der Bräutigam genommen werde, würden sie fasten (Mk 2,19). Damit ist der Karfreitag gemeint, an dem Christus ermordet wird. Damit ist unsere Erfahrung gemeint, dass Jesus nicht unter uns ist, so wie er damals unter den Jüngern war. Die Fastenzeit ist Ausdruck der Trauer darüber, dass es die Finsternis noch gibt, wo doch das Licht schon erschienen ist.
  • Zugleich ist die Fastenzeit aber auch Zeit der Sehnsucht. Diese Wochen sind die letzte Etappe derer, die sich auf die Taufe in der Osternacht vorbereiten. Ohnehin durchbricht der Sonntag jede Fastenzeit, denn an diesem Tag erfahren wir, wie gegenwärtig der Herr auch für uns ist: In dem Wort des Evangeliums, das wir hören, in der Gemeinde, die sein Leib ist und vor allem im Fest von Brot und Wein, in denen sich Christus schenkt zur Stärkung und Freude - Laetare!. Damit ist gegenüber den Trauernden an den Strömen Babylons unsere Sehnsucht doch auch schon durchbrochen von Erfahrung der Gegenwart Gottes und wird daher zur Sehnsucht nach immerwährender Erfüllung.
  • Wir sollten uns Orte der Sehnsucht schaffen. Das wäre vielleicht ein Zugang zu der Frage, wie jeder für sich seine Fastenzeit gestalten kann. Dies kann ganz klassisch der Verzicht auf Genuss sein. Es kann aber auch darin bestehen, in diesen Wochen das eigene Zimmer zu gestalten, etwa Bilder von der Wand zu nehmen und so Raum zu schaffen. Die Fastenzeit ist hervorragend dafür geeignet, sich neu der Ohnmacht auszusetzen, die wir in der Begegnung mit Armen und Benachteiligten erfahren. Auch für den Weg in die Wüste ist die Fastenzeit geeignet - Tage der Stille oder auch nur regelmäßig ein Nachmittag, den ich bewusst frei lasse für das Schweigen, einen einsamen Spaziergang und eine Stunde vor dem Tabernakel in der Kirche. Orte, an denen mir Vertrautes fehlt und ich die Sehnsucht spüre über das hinaus, was sonst meinen Alltag bestimmt.
  • So kann ich dann einstimmen in den Psalm 137. "An den Strömen von Babel, da saßen wir und wir weinten, wenn wir Zions gedachten." Ich kann meine eigene Sehnsucht und Trauer in dieses Lied legen. Ich kann die Menschen vor Gott tragen, die unter der Ungerechtigkeit und dem Dunkel leiden, die Hunger haben, Unsicherheit erleiden und ihren Ängsten ausgesetzt sind. Kann beten: Komm Herr, Maranatha! Das alles aber wissend und glaubend, dass im Letzten das Dunkel vom Licht überwunden ist. Amen.

(Lied nach der Predigt: Kanon "By the waters of Babylon" von Don McLean)