Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt zum 15. Sonntag im Lesejahr C 2016 (Lukas)

Zurück zur Übersicht von: 15. Sonntag Lesejahr C

10. Juli 2016 - Kleiner Michel (St. Ansgar), Hamburg

1. Und wer ist mein Nächster?

  • Am Ende des Evangeliums bringt Jesus einen interessanten Dreh. Fast überhört man es. Es braucht einen Augenblick, bis man den Kniff merkt. Denn die Ausgangsfrage des Gesetzeslehrers war ja: "Und wer ist mein Nächster?" Dann erzählt Jesus ein Gleichnis, in dem das Verhalten des Samariters zeigt: So erweist man einem Menschen in Not Nächstenliebe. Am Ende jedoch dreht Jesus die Frage um: "Wer von diesen dreien hat sich als der Nächste dessen erwiesen, der von den Räubern überfallen wurde?". Aus der Frage: "Wer ist mein Nächster?" wird die Frage "Wer wird dir dein Nächster?"
  • Das Opfer des Überfalls zeigt sich als der, der im helfenden Samariter seinen Nächsten entdeckt. Nächster zu sein ist also nie einseitig, anderen zu helfen, sondern immer etwas, das für beide grundlegend das Verhältnis zu einander verwandelt. Nächstenliebe ist immer auch umgekehrt: Das Opfer des Überfalls wird selbst zum Subjekt der Nächstenliebe.
  • Wenn Jesus also auffällig noch einmal das Verhältnis dreht, wer wem Nächster ist, dann wird ganz deutlich, dass Nächstenliebe deutlich vielschichtiger ist, als nur dass jemand einem anderen etwas Gutes tut. So lenkt Jesus die Aufmerksamkeit auf beide: den Helfenden und den, dem geholfen wird.

2. Drei verschiedene Weisen zu sehen

  • Warum konnte der von den Räubern Überfallene nicht schon dem Priester ein Nächster werden. von ihm heißt es: "Zufällig kam ein Priester denselben Weg herab; er sah ihn und ging weiter."
    Es war offensichtlich nur ein äußeres Sehen. Vielleicht weil dieser blind war für die Not; vielleicht kam so etwas in seiner Welt bisher nicht vor. Womit wir nie rechnen, weil unser Weltbild es ausblendet, das können wir schwerlich sehen und in seiner Bedeutung einschätzen. Wir kennen das Phänomen aus dem Zusammenhang von Gewalt in Familien und gegen Kinder: Wer sich immer schon sicher war, dass 'so etwas' bei uns nicht vorkommt, wird auch die deutlichsten Anzeichen im Kopf ausfiltern.
    Dass dies einem Priester passiert, der die Bibel kennen sollte, ist besonders erschütternd, denn die Bibel blendet das Unrecht und die Gewalt an keiner Stelle aus und schont darin weder die Mächtigen noch die Repräsentanten des Glaubens. Es kommt daher keine helfende und keine heilende Beziehung zustande, weil der Priester zwar sieht, aber ohne zu verstehen weiter geht.
  • Warum konnte der von den Räubern Überfallene nicht schon dem Leviten ein Nächster werden, der als zweiter vorüber geht. Auch der Levit ist einer, der am Tempel Dienst tut.
    Es gibt eine zweite Form des Sehens, die zwar sehr gut versteht, was da passiert ist - aber nicht die Kraft dazu hat, weiter hinzusehen und sich involvieren zu lassen. Ich denke nicht an das billige Argument, ich sei ja nicht zuständig. Vielmehr kann es ja die ganz konkrete Angst vor der Überforderung sein, die den Leviten weiter gehen lässt, ohne zu helfen. Er sieht, versteht was geschehen ist, spürt dass er helfen müsste - und geht dennoch weiter, weil ihm das Vertrauen fehlt, dass Gott ihm die Kraft gibt, die man in einer solchen Situation braucht.
    Dass dies einem Leviten passiert, ist besonders traurig, weil er könnte aus der Glaubenserfahrung so vieler Menschen wissen, dass Gott uns in solchen Situationen die Kraft gibt, die wir brauchen, auch wenn wir davor nicht damit gerechnet haben.
  • Und dann ist der Dritte, der Samariter. Auch er sieht. Aber irgend etwas ist anders, als bei den beiden vor ihm.
    Man könnte sagen, er ist einfach ein besserer Mensch, als die beiden vor ihm. Obwohl er aus dem verfeindeten Samarien kommt, ist er ein Vorbild, wie man handeln soll. Ich kann mir aber vorstellen, dass Jesus noch einen tieferen Zusammenhang andeutet: Denn der Samariter kommt ja auch den Weg "von Jerusalem nach Jericho". Er wird also Erfahrung damit haben, was es bedeutet, von anderen ausgegrenzt zu werden. Auch damals gab es Gewalt gegen Ausländer. Vielleicht hat er selbst es erfahren, vielleicht Menschen, die ihm nahe stehen.
    Auf jeden Fall kann - muss nicht - die Erfahrung von Gewalt zur Gnade werden, die hilft, Gewalt zu sehen und die Perspektive dessen einzunehmen, dem Räuber Gewalt angetan haben und den sie schutzlos haben liegen lassen. Diese Gnade einer Erfahrung, die nicht verdrängt wurde, sondern vor Gott gebracht und Gott anvertraut wurde, kann der Beginn dessen sein, was hier geschildert wird: Der Samariter wird zum Nächsten dessen, dem von Räubern Gewalt angetan wurde.

3. Barmherzigkeit Gottes, der uns zum Nächsten wird

  • Damit sind wir ganz nah an dem, was in Jesu eigenem Leben und Schicksal geschieht und offenbar wird: In Jesus gerät Gott selbst unter die Räuber, wird ausgeraubt und ans Kreuz gehängt. Das ist die Weise wie Gott sich zeigt. So offenbart sich Gott.
  • Deswegen der Dreh, mit dem Jesus die Frage des Gesetzeslehrers umdreht: Du wirst Gott zum Nächsten, wo du heraustrittst aus deiner Selbstsicherheit des Priesters und Gesetzeslehrers. Du wirst Gott zum Nächsten, wo du Gott zutraust, dass er dir die Kraft gibt, die es braucht. Du wirst Gott zum Nächsten, wo du dort barmherzig handelst, wo du in der geschundenen Schöpfung der Gegenwart des Schöpfers gewahr wirst.
  • "Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele" ist das, was zum Leben führt. Der Weg dorthin ist der Weg, sich zu öffnen für die Verletztheit der Welt um mich herum - und vielleicht meiner selbst. Nicht im Wegschauen, nicht im Weitergehen, sondern im Hingehen und aufmerksamen Hinknien vor denen, die unter die Räuber gefallen sind, kann ich die Erfahrung machen, dass Gott mich berufen hat, ihm nahe zu sein, als Nächster Gott und den Menschen. Amen.