Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt zu Karfreitag 2022

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15. April 2022 -

1. Mitgefühl

  • Mehr als einmal ist es mir in den vergangenen Wochen besonders aufgefallen: Wie unpassend das ist, wenn ich daheim im Sessel sitze und Bilder vom Krieg sehe. Der Widerspruch ist nicht neu, aber jetzt besonders intensiv, denn ich lebe in einem Haus zusammen mit 150 Menschen, die durch diesen Krieg aus der Ukraine vertrieben wurden.
  • Meine privilegierte Situation passt nicht. Ich sehe ein Leid. Doch zugleich ist es ganz deutlich nicht meine Erfahrung. Die Bilder berühren mich. Doch meine Lebenssituation könnte nicht verschiedener sein.
  • Diese Distanz muss ich – sollte ich – aushalten. Das Leiden ist nicht meines. Ich werde durch das sehen am Fernsehen nie mitleiden, auch nicht, wenn ich Menschen begegne und zuhöre. Mitleid ist ein Wort, das mehr verschleiert als es sagt. Doch gibt es so etwas zu Mitgefühl. Mitfühlen respektiert das Opfer der Gewalt und ist dem Herzen nach dem Menschen doch nahe.

2. Aneignung

  • Ich kann verstehen, wenn Menschen dadurch verletzt werden, dass andere sich ihre Situation oder Kultur gleichsam "aneignen". Als Mann etwa kann ich nur bedingt nachvollziehen, was es für eine Frau bedeutet, Gewalt ausgesetzt zu sein – einfach, weil Gewalt gegen Frauen auch in unserer Gesellschaft ungleich häufiger ist. Ich kann abends entspannt durch den Park gehen. Frauen können das oft nicht.
  • Besonders in den USA, in England und Frankreich, aber auch bei uns wird darüber diskutiert. Was bedeutet das für Menschen, die benachteiligt sind, wenn andere meinen, sie könnten sich ihre Kultur und Perspektive aneignen, obwohl sie selber nie diese Benachteiligung erfahren haben (cultural appropriation)?
  • Für uns Christen ist das kein nebensächliches Thema, schon gar nicht am Karfreitag. Denn an diesem Tag üben wir uns immer wieder darin ein, auf das Kreuz und damit auf das Opfer von Gewalt und Willkür zu schauen. Es gibt viel zu viel oberflächliche Rede über das, was das Kreuz bedeutet. Das Kreuz wird irgendwie spiritualisiert. Es gibt aber Menschen, die wirklich schlimmste Gewalt und Erniedrigung erfahren.

3. Kreuzweg

  • Gerade die katholische Tradition kennt viele Formen, den Kreuzweg Jesu innerlich mitzugehen. Die Kreuztracht hier in Delbrück gehört dazu.
  • Im Angesicht des Kreuzes aber sollte jede und jeder für sich selbst den Standort bestimmen: In welchem Maß schaue ich auf das Kreuz, die Gewalt und die öffentliche Erniedrigung als jemand, der dies selbst erleidet oder erlitten hat – oder eben nicht. Denn je nach dieser "Standortbestimmung" bedeutet das Kreuz etwas ganz Verschiedenes. Dabei gibt es oft nicht nur schwarz oder weiß, Gewalt erlitten haben oder nicht. Der Standort wird oft irgendwo entlang dieser Linie sein.
  • Je nachdem, wo ich mich finde erfahre ich heute entweder, dass Gott in Jesus Christus den Schmerz und die Erniedrigung mit mir teilt – oder ich spüre, dass ich dazu berufen bin, mit zu empfinden und überhaupt erst zu sehen, was hier geschieht. Die Armen haben von je her das Evangelium vom Karfreitag meist gut verstanden. Wir als Kirche jedoch – ich als Priester, aber auch wir in unserer kirchlichen Kultur – haben in der Vergangenheit viel zu oft darin versagt, ernsthaft das Opfer der Gewalt zu sehen. Das aber bedeutet: Wo wir weggesehen, verleugnet oder gar vertuscht haben, haben wir Gott nicht gesehen, Gott verleugnet, sein Leiden vertuscht.
    Heute ist die Gelegenheit, neu empfindlich zu werden für Gottes Gegenwart.