Adventspredigt 1: "Seid gewiss ich bin bei Euch ..." - Mission
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10. Dezember 1995 - Mainzer Dom
Hinweis:
Die zwei Adventspredigten 1995 im Mainzer Dom standen unter dem
Generalthema "Seid gewiss ich bin bei euch...", dem Wort vom Ende des
Matthäus-Evangeliums. Die beiden Prediten wurden als Fastenpredigten in
Dieburg 1996 um eine dritte erweitert. Das Thema wurde also in drei
Schritten entfaltet:
1. Evangelisation. Die gute Botschaft der Befreiung
2. Mission. Mit Christus neue Wege gehen
3. Kreuz. Auf die Auferstehung mit dem Gekreuzigten getauft
Im zweiten Punkt nimmt die Predigt auf die Verfilmung "Schlafes Bruder" von Joseph Vilsmaier Bezug.
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0. Christus, Zukunft der Kirche
- Jesus Christus wurde gekreuzigt, weil er von sich eine einzigartige Nähe zu Gott, unserem Vater behauptet und gelebt hatte. "Ich
und der Vater sind eins". Von diesem Gott wusste er sich gesandt: zur Umkehr zu rufen und das nahe Himmelreich zu verkünden.
Ein wesentlicher Teil der Sendung Jesu Christi war von Anfang an, dass er andere in seine Sendung mit hinein genommen hat. Die
Zwölf, die Jesus aussendet (Mt 10), haben keine andere Sendung, haben keine andere Mission, als Jesus Christus selbst.
- Jesus Christus begreift das Kreuz auf Golgotha als einen Teil seiner Sendung. Nur im Durchgang durch das Leid und den
Widerstand der Welt kann das Leid und die Schuld aufgebrochen und überwunden werden. Der Anfang vom Ende dieses Äons ist in
der Auferstehung gesetzt.
- In den Fastenpredigten haben wir die Zuversicht aus dem Schlusssatz des Matthäus-Evangeliums zugrunde gelegt: "Seid gewiss, ich
bin bei Euch." Am vergangenen Sonntag war diese Gewissheit die Grundlage, der Kirche den Dienst der Evangelisation zuzutrauen:
Furchtlos in unsere Zeit und Kultur einzudringen, sie sich zu eigen zu machen, wo sie wertvolles birgt aber auch entschieden das
Evangelium zu verkünden, wo der Mensch verkürzt und vergessen wird. An diesem Sonntag wird der eigentliche Kontext des
Matthäus-Schlusses ausgedeutet: Die Sendung.
- Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
1. Vilsmaiers "Schlafes Bruder"; die Parabel vom Zerfall
- Im letzten Herbst wurde in den deutschen Kinos "Schlafes Bruder",
eine erfolgreiche Verfilmung eines vor zwei Jahren erfolgreichen
Romans, gezeigt. Bei allem, was man an diesem Film im Formalen
kritisieren kann, war es eine Produktion, die mich ungewöhnlich
lange beschäftigt hat. Der Film hat gegenüber dem Buch einen
verschobenen Ansatz der Erzählung. Es ist daher müßig, Buch und
Film gegeneinander abzuwägen. Ich möchte nur über den Film sprechen.
- Als ich das Kino nach "Schlafes Bruder" verlassen habe, war der
erste Gedanke, der mir durch den Kopf schoss, dass dies der
unmoralischte Film gewesen sei, den ich seit langem gesehen habe. Nicht
dass der Film ungewöhnlich schmutzig oder brutal ist. Der
Film ist in einem präzisen Sinn unmoralisch.
- Vilsmaier führt uns in ein winziges, abgelegenes, verdrecktes und
unbedeutendes Kaff in Vorarlberg am Anfang des letzten
Jahrhunderts. In seiner Abgeschiedenheit ist das Dorf eine kleine Welt
für sich, so sehr für sich, dass die Inzucht in den Gesichtern
ihre Spuren hinterlässt. In dieses Dorf hinein wird ein Kind geboren,
das sich nicht einfügt in das Gewohnte. Ein Genie wird
geboren, das seinen Eltern von Anfang an suspekt ist. Elias heißt der
Knabe, nach dem Propheten, der wiederkommen muss, bevor
sich alles erfüllt.
- Das Dorf dort oben in den Bergen über dem Rheintal war - weiß
Gott - nicht das Paradies auf Erden. Aber irgendwie war dieser
kleine Mikrokosmos stabil. Der Lehrer hat hier eine Stelle gefunden, wo
seine Mittelmäßigkeit nicht weiter auffällt. Der Herr Pfarrer
ist eine Autorität, zumindest wenn es dem Küster rechtzeitig gelingt,
dem vertrottelten Alten zuzuraunen, welches Formular zu
beten sei. Der Vater steht unangefochten als Haupt der Familie, weiß er
doch mit starken Fäusten seine Autorität durchzusetzen.
- Mit Andersartigen wie dem Köhler weiß man umzugehen: sie werden an den Rand des Dorfes verbannt und nehmen nicht am
sonntäglichen Gottesdienst teil.
- Dieser mehr schlecht als recht funktionierende Mikrokosmos wird nun aufgebrochen durch das Individuum, das durch seine bloße
Existenz die Autoritäten entlarvt. Was ist noch mit der Autorität des Lehrers, wenn, für jeden offensichtlich, der Schüler ihm
überlegen ist? Was vermag der Vater mit seinen Fäusten, wenn der Geschlagene sie nicht fürchtet?
- Der Film erzählt den systematischen Verfall jeder sozialen Ordnung und jeder Autorität.
- Das für mich zutiefst Unmoralische dabei ist, dass ganz
offensichtlich, das Individuum, das Genie Elias, keine neue Struktur,
keine
neuen Beziehung schaffen kann, die an die Stelle der alten, durch seine
reine Gegenwart zerstörten treten könnte. (Zutiefst moralisch
ist - im Vergleich dazu - jeder klassische Krimi: wo aus der Unordnung
und dem Chaos durch die beharrliche Tätigkeit des
Kommissars wieder verläßliche Ordnung und wiederhergestellte
Gerechtigkeit wird! Zutiefst moralisch ist z.B. ein Film aus den
letzten Wochen: Rappenaus Verfilmung "Der Husar auf dem Dach", wo ein Mensch die die Würde wahrende Ordnung in einer
Zeit des Zerfalls aufrecht erhält, ohne zum tragischen Opfer oder lächerlich zu werden)
- Unfähig ist Elias auch nur eine private Liebesbeziehung zu
stabilem Leben zu führen; tragisch, weil ihm die Sprache und der Wille
fehlt, seine Liebe auszudrücken und ihr Form zu geben.
- Der Film erzählt in einem kleinen Dorf in Vorarlberg die
Geschichte des Zerfalls der gesellschaftlichen Strukturen vor
zweihundert
Jahren. Nicht aus Bosheit wird zerstört, sondern tragisch: Durch den
reinen Gedanken des Individuums wird der bis dahin mühsam
als Kulisse gewahrte Kosmos zerstört. Sie können diesen Prozeß heute in
besonders schmerzhafter Weise bei Einwandererfamilien in
Deutschland beobachten, wenn die Kinder um ein vielfaches besser die
Sprache beherrschen, als ihre Eltern. Es ist nicht die Bosheit
der Kinder, dies ist die Tragik der Umstände, die die Autorität der
Eltern bloßstellt.
- Die einzige soziale Beziehung, die am Ende des Films überlebt, ist die heroische Treue bis in den Tod und die Beziehung zwischen
der applaudierenden Masse und dem Genie. Elias ist aus der Ruine seines Dorfes und seiner Kirche in die große Stadt Feldberg
gekommen, wo sein musikalisches Genie entdeckt und bewundert wird. Aber die Tausende, die ihm zujubeln, sind keine Form mehr,
in der wir leben könnten.
2. Die Sendung der Kirche und die gesellschaftliche Ordnung
- Ich erzähle Ihnen diese lange Geschichte, weil Sie darin
vielleicht vieles wiedererkennen. Oft hilft ein Bild, eine Erzählung,
ein Film
etwas auf den Punkt zu bringen, was uns undeutlich bewusst ist.
- Das Selbstverständnis der katholischen Kirche ist bis weit in
unser Jahrhundert, vielleicht bis heute das: wir halten aufrecht, was im
Zerfallsprozeß der Moderne zerschlagen wurde. Viele Kirchenbauten des
vergangenen Jahrhunderts, Trutzburgen gegen die
heranbrechenden Wellen, drücken eben dies aus.
- An nichts wird dieses Selbstverständnis so deutlich, wie an der
Betonung der Familie in der Verkündigung und im Leben der Kirche.
Seit dem 19. Jahrhundert ist es ein unverrückbarer Bestandteil
katholischen kirchlichen Selbstverständnisses, Hüterin der Familie zu
sein.
- Daher wird der Film "Schlafes Bruder" - zu recht! - auch als so eminent atheistisch empfunden.
- Wir haben uns an dieses Selbstverständnis so sehr gewöhnt, dass
dahinter vielleicht vergessen wurde, was denn die Sendung ist, die
- ausweislich des Evangeliums - der Kirche von Jesus Christus gegeben
wird. Wir sind vielleicht viel zu schnell bereit, als
Reparaturanstalt einer verkorksten Gesellschaft einzuspringen, um zu
merken, was unsere Mission ist.
- Unsere Mission ist es, "mit Christus neue Wege" zu gehen. Wenn dabei Bewährtes bewahrt wird; nun gut. Unsere Sendung
erschöpft sich darin nicht.
- Im Gegenteil: Werfen Sie einen aufmerksamen Blick in das Evangelium, dann werden Sie dort all das exemplarisch vorgeführt
finden, was wir heute so sehr beklagen.
- Was zum Beispiel hat Jesus auf die Krise der Schule und auf den Autoritätsverfall zu sagen?
Wir haben leicht vergessen, dass Jesus, der auftritt mit göttlicher
Vollmacht, die religiösen Autoritäten wie kein anderer bloßstellte
und zum Wanken brachte. Der Nachdonner dieser Vollmacht ist immer dann
zu spüren, wenn der Heilige Geist in der Kirche
Menschen anstacheln muss, Christi Kirche an ihren Ursprung und ihr Haupt
zu erinnern.
- Was macht Sie meinen, die Mission Christi sei die Stärkung der Familie?
Schon der Zwölfjährige im Tempel macht deutlich, wo sein eigentliches Zuhause ist. Die Jünger ruft Jesus aus den Booten ihrer
Väter heraus und selten macht man sich Gedanken darüber, in welch desolatem Zustand solcherart dezimierte Familien
zurückbleiben. Selbst seine eigene Familie verleugnet Jesus mehrfach und verweist auf die Jüngerinnen und Jünger, die mit ihm
ziehen: "Das hier sind meine Mutter und meine Brüder. Denn wer den Willen meines himmlischen Vaters erfüllt, der ist für mich
Bruder und Schwester und Mutter" (Mt 12,49f).
- Wie kann die Autorität eines Vaters bestehen, wenn Christus sagt: "Ihr sollt keinen auf Erden Euren Vater nennen?" Wie soll ein
Lehrer vor die Klasse treten, wenn ihm die Kinder im Chor antworten, dass sie niemand ihren Lehrer nennen dürfen, weil nur einer
der Lehrer ist, Christus?
3. Die Kirche ist gesandt
- Wenn wir Christkatholiken uns heute als Hüter der abendländischen Ordnung gebärden, dann ist die Erinnerung an diese, alle
irdische Ordnung zersetzende Seite des Evangeliums erfolgreich verdrängt.
- Es ist unendlich schwierig, ernst zu nehmen, dass Jesus nicht nur
seine eigene Familie verlässt, nicht nur andere motiviert, alles zu
verlassen, sondern darüber hinaus ein großes Fragezeichen hinter die
Autorität der Machthaber dieser Welt macht.
- Von daher ist die Moderne, die Entdeckung des Individuums und des
unverwechselbaren Wertes der individuellen Person, ein Kind
des Christentums. Es ist kein Zufall, dass dieser historische
Umwälzungsprozeß der letzten dreihundert Jahre im christlichen Europa
seinen Ausgang genommen hat und nirgend sonst.
- Dennoch ist die Moderne nur ein Bastard, ein illegitimes Kind, (wie Elia im Film).
- Es stimmt: Jesus ruft die Jünger aus dem Boot ihres Vater. Er ruft und verbietet, sich umzudrehen und Abschied zu nehmen. Er
verlangt die völlige Loslösung. Aber er entlässt den Menschen nicht in die dünne Luft, in der ich mit mir selbst verloren bin.
- Die Jünger verlassen nicht einfach das Boot ihres Vaters, weil es
ihnen dort zu eng geworden ist. Sie verlassen es, weil sie gerufen
werden. Die Jünger weigern sich nicht deshalb, ihren Vater auf Erden
Vater zu nennen, weil sie der stickigen Spießbürgerlichkeit am
See Genesareth entfliehen wollen, sondern weil sie den Ruf des einen
Vaters aller Menschen hören und ihm folgen. Im Christentum
ist nicht deswegen kein Platz mehr für Lehrer, die die Richtung weisen,
weil alles beliebig wäre, sondern weil wir einen
unüberbietbaren Lehrer haben, der Maßstab für jeden Schulmeister ist.
- Als Christen sind wir gerufen. Wir sind gerufen uns senden zu lassen. Wenn wir verlernt haben uns als missionarische Kirche zu
verstehen, wenn wir die Sendung aus dem Spektrum unserer Glaubensvollzüge ausklammern, dann hat dies seinen Grund darin, dass
wir nicht frei genug sind, uns herausrufen zu lassen.
4. Die Sendung leben
- Sich rufen und sich senden zu lassen ist nie begrenzbar auf einzelne Glieder der Kirche. Die Kirche als Ganze muss aus einer
missionarischen Grundhaltung heraus leben.
- Der Ausdruck, den wir dafür gefunden haben, ist die Liturgie. Im Hören des Wortes Gottes, in der Einfügung in den Leib der
Kirche, indem wir Christi Leib in uns aufnehmen, vollziehen wir die Einfügung unseres Leibes in den Leib Christi.
- Nicht umsonst endet jede Eucharistiefeier mit den selben Worten wie das Matthäusevangeliums: Geht hin! Diese Sendung am Ende
prägt so sehr das Ganze, dass sie der Eucharistiefeier den Namen gegeben hat, Messe.
- Jede Hl. Messe reißt uns den Himmel auf und zeigt uns den Vater,
der uns ruft, und die Heimat, in die hinein wir gerufen sind. Das
ist der große, alles umwerfende Unterschied der Geschwisterlichkeit der
Kirche zur Brüderlichkeit der französischen Revolution.
Die Brüder, deren Bajonetten sich mit Blut beschmieren, haben keinen
Vater, sondern sind sich alle gleich. Die Schwestern und
Brüder in der Kirche wissen sich als Kinder des einen Vaters, der seinen
Sohn gesandt hat, damit wir teilhaben können an der
Mission des Sohnes.
- Jeder und jede von ihnen wird an ganz anderen Stellen erleben,
dass die Nähe zu Christus von Ihnen verlangt, sich loszulösen, sich
zu verweigern, nicht mitzumachen. Wir brauchen einander und müssen für
die Mission eines jeden Gliedes unserer Kirche alle
zusammen einstehen.
- Selten wird es um den großen Widerstand gegen die Verknechtung
durch die Machthaber dieser Welt gehen. Fast täglich aber sind
wir in Situationen, in denen wir uns daran erinnern müssen, dass die
Freiheit, die uns geschenkt ist, nicht in sich selbst endet; dass
wir einander anvertraut sind, wie ein wertvoller Schatz, der uns zu
treuen Händen gegeben wird.
- Auch die große Mission der Kirche, den Glauben weiterzugeben, der uns geschenkt wird, hat in der Grundhaltung jedes und jeder
einzelnen ihren Halt und ihre Wurzeln. Wenn es uns gelingt, nicht nur an fernen Gestaden sondern in unserem kalt gewordenen Land
Menschen zu Christus zu führen, dann ist dies nicht die Leistung professioneller Missionare, sondern Ausdruck einer
missionarischen Lebenshaltung der ganzen Kirche und jeder einzelnen Gemeinde.
5. Komm, O Tod, Du Schlafes Bruder
- "Schlafes Bruder" endet mit einem Selbstmord. Genauer, am Ende wird jener Selbstmord vollzogen, den der vaterlose Zerfall
unausweichlich gemacht hat.
- Elias bringt sich um, indem er sich dem Schlaf verweigert. Wie kann, so denkt er, schlafen wer liebt. Wie kann die Welt sich in
sicheren Bahne drehen, wenn ich mich zur Seite lege und schlafe?
- Die Stadt New York rühmt sich dieser Schlaflosigkeit: "The city that never sleeps". Längst ist die Schlaflosigkeit, die Ruhelosigkeit
zum Kennzeichen aller Städte weltweit geworden. Ich verdanke "Schlafes Bruder" die Erkenntnis, wie morbid, todesnah,
todessehnsüchtig diese immerwährende Aktivität ist. Nur der Tod kann jene Ruhe erzeugen, die verloren gegangen ist mit dem
Glauben an eine Sendung.
- Wer sich aus aller Ordnung herauslöst, ohne gerufen zu sein und
ohne die Autorität einer Sendung, die Richtung gibt, der hat keinen
Grund, auf dem er Halt findet. Der muss in ständiger Anstrengung wie
Atlas die Welt auf seine Schultern laden, aktiv sein, sich und
seine Umwelt kontrollieren, damit ihn im Schlaf nicht Unheil überfällt.
- Wie völlig unverständlich ist die Gestalt Jesu, der mitten im Seesturm im hinteren Teil des Bootes liegt und schläft, wenn wir
vergessen, dass nicht wir das Ziel des Universums sind!
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Die Gemeinschaft mit Christus, seine verheißene Gegenwart, seine Nähe zum Vater aller, ist die verlockende
Einladung des Evangeliums. Wir müssen uns nur dieser Einladung öffnen, dann werden wir sehen, dass diese
Botschaft über unsere Mauern hinaus zu allen Menschen drängt.
Jesus Christus ist von Gott die Macht gegeben, uns zu rufen und zu senden. (Mt 28,18)
"Darum geht zu allen Völkern, und macht alle Menschen zu meinen Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters
und des Sohnes und des Heiligen Geistes, und lehrt sie alles zu befolgen, was ich Euch geboten habe. Seid gewiss:
ich bin bei Euch alle Tage bis zum Ende der Welt." (Mt. 28,19f).