Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt am 2. Adventssonntag Lesejahr B 1993 (Adventspredigt)

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5. Dezember 1993 - Pfarrei Eschweiler-Röhe, Katholisches Männerwerk (Adventspredigten)

1. Gottes fremde Schöpfung

  • Man kann sich die gemischten Gefühle Gottes angesichts seiner Schöpfung vorstellen: Geschaffen, um seinen Schöpfer in Freiheit zu lieben, ist der Mensch in der Geschichte ständig bemüht, Unfreiheit und Tod zu bringen.
  • Die Entfremdung und Fremdheit, über die die Menschen im übertechnisierten Zeitalter klagen - in allen ideologischen Schattierungen - ist durch das zwanghafte "Machen einer neuen Heimat" nicht zu überwinden. Alle Wege, die Entfremdung zu überwinden, sind in brutalster Menschenverachtung geendet: Der Versuch der Überwindung unserer Entfremdung durch Arbeit endete im Diktat der staatssozialistischen Bürokratien und ließ die Menschen ausgebrannt zurück; der Versuch die Fremdheit unter den Menschen durch die Schaffung einer reinrassigen Heimat zu überwinden, endete im Weltterror und verbrannte buchstäblich die Menschen, die die Reinheit bedrohten. Jeder Versuch, Entfremdung, Fremdheit, Angst, Alleinsein durch Abschottung, Grenzen, Maßnahmen zu überwinden ist zum Scheitern verurteilt, weil wir nicht durch Fremde uns fremd sind, sondern durch uns selbst.
  • Wenn ich dies religiös zu sehen versuche, dann ist mir inmitten dieser Welt Gott selbst fremd geworden - oder besser: er scheint es. Denn in Wirklichkeit ist er nicht uns, sondern sind wir ihm fremd geworden. Es ist unser Lebensstil, der uns den Blick auf Gott verstellt, und zwar nicht erst dort wo wir uns am offenen Mord beteiligen, sondern bereits dort, wo wir wegschauen, als ginge uns das alles nichts an.
  • Dies ist die Situation, in der Gott überlegt, wie er uns wieder nahe zu sich holen kann, damit die ursprüngliche Ordnung der Schöpfung wieder stimmt: Wo der Schöpfer nicht fern ist, sondern mitten im Herzen wohnt.

2. Gute alte Zeit

  • "Früher, ja früher, da gab es diese Probleme nicht". Tatsächlich ist auffällig, dass nichts die Menschen so sehr religiös zu machen scheint, wie Krieg und Gewalt. Wo wird inniger gebetet und verzweifelter gehofft als dort, wo die Gottesferne sich im nackten Tod präsentiert?
  • Wenn es nicht so zynisch wäre, würde man sich ja fast einen neuen Krieg wünschen, damit die Menschen wieder glauben. Die Älteren erinnern sich doch an die Zeiten nach dem letzten Krieg, in denen der Glaube und die Kirche im Glanz ihres Ansehens standen. Der Krieg hat das Wort vom "krummen, das gerade werden soll" und vom "Tal, das sich hebt" und von "Berg und Hügel, die sich senken" auf ungeahnte Weise wahr werden lassen: Seine Gewalt hat alle Unterschiede eingeebnet, einplaniert und alle Umwege entlarvt, sodass die Wahrheit des Glaubens unverhüllt offenbar wurde.
  • Und doch beschleicht mich beim Blick auf diese Nachkriegsblüte des Glaubens ein Misstrauen. Es war nicht erst die jüngere und jüngste Generation, es war bereits die Kriegsgeneration selbst, die den Glauben (und die Kirche) sehr schnell wieder vergessen hat, theoretisch wie praktisch. Im Wirtschaftswunder blieb nicht viel vom Aufbruch; die Katastrophe wurde nicht als Schuld, sondern Verhängnis interpretiert - und verdrängt.
  • Der Aufschwung der Religiosität nach dem Kriege war vielleicht nicht viel mehr als eine besonders fatale Form der Innerweltlichkeit: Sobald es wieder möglich war, irdische Tröstungen zu schaffen, waren die himmlischen schnell vergessen. Das Leid und der Tod, die von außen den Menschen überfallen, sind keine Garanten für aufrichtige Nähe zu Gott.

3. Es müßte halt jemand...

  • Sollte Gott nicht, so mag man in der stillen Stunde denken, seine Herrlichkeit offenbaren? Wie wäre es, wenn die himmlischen Heerscharen am Himmel aufmarschieren? Ist es nicht höchste Zeit, dass die Dinge im rechten Licht erscheinen: Dass Gottes Herrlichkeit vor dem Menschen erstrahlt. Würde dann nicht endlich diese peinliche Diskrepanz zwischen Gott und seinem Bodenpersonal als Faktor ausfallen.
  • Allein: Was soll Gott tun, wenn er mit all seiner Herrlichkeit erscheint, wenn seine Heerscharen die Spötter verstummen macht? Soll er dort stehen, erscheinen, stehen und erscheinen? Gott hat uns zu einem Leben auf dieser Welt und in dieser Welt geschaffen. Leben ist Leben des Fleisches, davon legt die ganze Heilige Schrift beredtes Zeugnis ab. Eine Machtdemonstration göttlicher Heerscharen wird nur dazu missbraucht werden, dass sich höchst irdische Heerscharen, die mörderischen Heere der Überheblichkeit mit himmlischen Glanz verbrämen.

4. Kind werden

  • Gott dürfte all diese Alternativen erwogen haben; wie wir wissen, ist es zu einer ganz abwegigen Konsequenz gelangt. Die Antwort Gottes ist ein Kind: göttlich und einfach, gewöhnlich und gerade daher so unverständlich.
  • Unverständlich ist dieser Weg Gottes, weil wir ja eigentlich Kinder nicht wollen, nicht wollen können. Kinder sind ein Kosten- und Störfaktor. Sie sind nur einigermaßen erträglich, solange wir die Frauen überreden können, die Kinder in Schach zu halten, damit sie unserer wohlgeplanten Welt nicht ins Getriebe kommen und nicht vor die Kühler unserer lackierten Autos geraten, mit denen wir so bequem durch die Straßen rollen.
  • Eben gerade darum, weil es so wenig hineinpasst, ist Gott ein Kind geworden. Ihm wird es gehen wie vielen Kindern. Der Mann seiner Mutter wird sie verlassen wollen. Der Machthaber der Zeit wird ihm nach dem Leben trachten, kaum dass es geboren ist. Später wird man nach ihm greifen wollen, weil er als Erwachsener anders denkt und lebt als die anderen. Immer wird er unerwünscht sein unter den Menschen und fremd, so wie Gott in dieser Welt unerwünscht ist und wir ihm fremd sind.
  • Und dennoch will Gott so, nicht anders, die Fremdheit überwinden. Er will die Menschen und wird ein Mensch. Der Glaube bekennt: Er wurde uns gleich, in allem uns gleich - außer der Sünde. Gott nahm unsere Art an, um uns zu zeigen, wie er ist, unsere Art, aber nicht unsere Unart. Ein Kind soll uns zeigen, wie menschenfreundlich Gott ist, indem es uns zeigt, wie gottesfreundlich der Mensch sein kann. Das Herz Gottes wird auf neue, ungehörte Weise in der Welt schlagen. Dann bekommt das menschliche Herz einen neuen Takt.

6. Advent

  • Der Advent meint dieses Ankommen Gottes in der Welt. Er ist die intensivste Zeit des Jahres, in der die Kirche versucht, sich auf das zu besinnen, was mit dieser Ankunft verbunden ist. Advent ist daher die höchste Zeit der Freiheit: Weil in diesen Wochen das Angebot ist, unsere Freiheit neu zu erlernen.
  • Vielleicht brauchen wir dazu die Radikalität des Täufers Johannes, der gemerkt hat, dass er erst heraus muss in die Wüste um zu entdecken, wie frisch und süß das Wasser sein kann; der erst heraus musste aus der ummauerten Stadt, in der sich die Menschen einrichten, um Schritt für Schritt wieder zu lernen, was leben heißt. Vor allem aber: Johannes hat gespürt, dass wir heraus müssen aus der Gewohnheit unserer Argumente, unserer Selbstverliebtheit und Entschuldigungen. In der Wüste am Jordan brachte er die Menschen dazu, sich selbst dort zu sehen, wo wir uns am liebsten bedeckt halten.
  • Es stimmt: Das Krumme muss gerade werden, Täler müssen aufgeschüttet und Berge abgetragen werden. Aber nicht mit großem Gerät und donnerndem Getöse, sondern auf eine sehr unscheinbare und darum gerade so schwere Weise: Indem wir uns Gott dort öffnen, wo wir ihn wirklich brauchen. An der Stelle unseres Versagens.
  • Johannes ruft zur Umkehr auf, indem er die Menschen dazu brachte, ihre Schuld zu bekennen. Vielleicht müssen wir uns weit in unsere eigene Kindheit versetzen, um zu wissen, wie befreiend das sein kann: Mit einem offenen Wort auszubrechen aus der Kapsel der in uns hineingefressenen, verdrängten und verschwiegenen Halbheit und wirklichen schuld.
  • Dann, ja dann erfahren wir nämlich, wie nahe uns Gott ist: er ist der Gott der Vergebung; einer dem die Sandalen zu lösen wir nicht würdig sind, der aber von sich aus, aus freien Stücken, uns die Füße wäscht, damit wir, wie es im Johannesevangelium heißt, Gemeinschaft haben mit ihm.
  • Vielleicht kommt dann auch der Tag, an dem diese Welt im Feuer der Erkenntnis gereinigt wird uns sein Licht aufstrahlt wie am hellen Tag. Er ist es, der es uns verheißen hat.
    Amen.

Literaturhinweis

Vgl. Reiser, Werner: Die drei Gaben. Legenden unserer Zeit. Basel (Friedrich Reinhardt) 31981, Kapitel: Uns ist ein Kind gegeben, S. 23-32.