Predigt zum 2. Sonntag im Lesejahr B 2012 (1. Buch Samuel)
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15 Januar 2012 - Kleiner Michel (St. Ansgar), Hamburg
1. Was die Aufmerksamkeit prägt
- Ein Mitbruder aus meiner Hamburger Jesuitenkommunität hatte vergangene Woche einen
Fahrradunfall. Auf der Mönckebergstraße hat ihm ein Auto die Vorfahrt genommen. Der Fahrer
stand in der Bergstraße, sah vor sich einen Lamborghini und tritt auf sein Gaspedal um diesem
hinterherzuhechten bevor ein Bus kommt. Der Fahrradfahrer ist dabei seiner Aufmerksamkeit
entgangen und wurde quer über die Straße geschleudert. Zum Glück handelte es sich um einen
robusten Jungjesuiten, sodass dieser mit leichteren Verletzungen davon kam.
- Ich weiß nichts über die Psychologie dieses Kleinwagenfahrers, der einen Blitzstart versucht hat.
Vielleicht war er ja nur unaufmerksam, weil er an seine krank daheim liegende Mutter dachte.
Vielleicht war es aber doch der Lamborghini, der seine Aufmerksamkeit in Beschlag genommen
hat und dafür sorgte, dass er einen unbescholtenen Fahrradfahrer umgefahren hat. Wenn dem so
wäre, dann wäre das nicht untypisch, denn unsere Aufmerksamkeit hängt eng mit dem zusammen,
was uns wichtig und der Aufmerksamkeit wert scheint. Für manche Zeitgenossen ist dies eher ein
teurer Luxussportwagen als ein Radfahrer.
- In unserem spontanen Denken und Handeln kommt zum Ausdruck, wie wir geprägt sind - geprägt
wurden und uns haben prägen lassen. Dies gilt in besonderer Weise, worauf wir aufmerksam sind.
Neuere Naturwissenschaft bestätigt, was die alte Philosophie schon wusste: Unser Erkennen hängt
davon ab, wer wir sind oder wie wir verfasst sind ("Quidquid recipitur ad modum recipientis
recipitur" - "Was immer wahrgenommen wird, wird nach der Weise des Wahrnehmenden
wahrgenommen" , Thomas von Aquin Summa Theologiae, 1a, q. 75). Was ich wie wahrnehme, hat
nicht nur mit dem Gegenstand zu tun, der sich meiner Wahrnehmung darbietet, sondern ist auch
durch mich geprägt, durch die Verfassung meiner inneren und äußeren Wahrnehmungsorgane,
meiner Sinne und meines Geistes. Und das hat viel mit der Kultur zu tun, in der wir leben. Wenn
ein Lamborghini einen hohen Wert hat, dann gilt ihm halt mehr Aufmerksamkeit als dem Radfahrer.
2. Die Aufmerksamkeit für Gottes Wort
- Auch und gerade Gottes Wort braucht eine Schule der Aufmerksamkeit. Davon handelt die erste
Lesung, die wir aus dem 1. Buch Samuel gehört haben.
Samuel lebt sozusagen als Priesterlehrling am Tempel. Eli sollte sein Lehrmeister sein. Das
Kapitel, aus dem wir einen Abschnitt gehört haben, beginnt: "Der junge Samuel versah den Dienst
des Herrn unter der Aufsicht Elis. In jenen Tagen waren Worte des Herrn selten; Visionen waren
nicht häufig." Der Ort der Handlung ist zwar der Tempel. Aber auch dort ist es selten geworden,
dass Gott gehört wird. Daher braucht es drei Anläufe, bevor der Priester Eli kapiert, dass Gott
selbst zu dem jugendlichen Samuel gesprochen hat. Erst beim dritten Mal "merkte Eli, dass der
Herr den Knaben gerufen hatte".
- Schon zu Beginn des 1. Samuelbuches wird das Phänomen geschildert.
Samuels Mutter Hanna
betete im Tempel. Ohne laute Worte zu machen schüttete sie Gott ihr Herz
aus. Sie hat mit Gott
gerungen. Eine wahre Beterin. Doch der Priester Eli sah nur die
Lippenbewegungen einer emotional stark bewegten Frau und dachte, sie sei
betrunken. Nicht einmal Beten wurde als Beten
wahrgenommen, wenn es nicht in der ritualisierten Form geschieht. Nicht
nur die Aufmerksamkeit
für Gottes Wort war aus der Übung gekommen, sondern auch die
Aufmerksamkeit für Menschen,
die vor Gott ihr Herz ausschütten.
- Unsere Aufmerksamkeit hängt davon ab, wer wir sind oder wie wir verfasst sind. Wenn wir also
das Gefühl haben, in unserer Zeit seien "Worte des Herrn selten", dann liegt das vielleicht an uns.
Dabei meine ich wirklich "uns" im Plural. Denn natürlich kann und soll sich jeder einzeln bemühen
aufmerksam zu sein für Gottes Gegenwart. Aber wir sind zugleich geprägt und haben eine
Verantwortung für unsere gemeinsame Kultur oder Unkultur.
[Dieser Aspekt spielt im Samuelbuch eine große Rolle. Der Priester Eli
selbst wird in diesen
Kapiteln zwar eher positiv geschildert, aber doch auch als hilflos. In
seiner eigenen Familie und bei
seinen eigenen Söhnen, die auch am Tempel Dienst tun, hatte die
Korruption um sich gegriffen.
Auch wenn Eli selbst ein ganz ordentlicher Mensch war, so hängt doch
vielleicht seine Unerfahrenheit mit Gottes Gegenwart und mit dem Beten
der Menschen damit zusammen, dass in
seiner Familie und Umgebung so wenig Vertrauen in Gottes Gebote
herrscht. Deswegen hat diese
Priesterfamilie auch keine Zukunft: "Ich habe ihm angekündigt, dass ich über sein Haus für immer
das Urteil gesprochen habe wegen seiner Schuld; denn er wusste, wie seine Söhne Gott lästern,
und gebot ihnen nicht Einhalt."]
3. Der Preis der Aufmerksamkeit für Gottes Wort
- Abschließend soll aber von Samuel selbst die Rede sein. Denn es ist ja nicht so, dass man Gottes
Wort so hört, wie wenn Schallwellen auf unser Trommelfell treffen. Wir werden Gott immer nur
dort innerlich hören, wo unser Denken und Fühlen mit unserem Geist in Verbindung ist. Viel mehr
noch als in äußeren Dingen braucht es in geistlichen Dingen die Übung der Aufmerksamkeit. Das
kommt durch die drei Anläufe zum Ausdruck, die es braucht, bis Samuel lernen kann, dass Gott zu
ihm spricht.
- Wesentlich ist dabei die Bereitschaft. Von Anfang an dreht sich Samuel nicht knurrend um, als er
gerufen wird, sondern ist bereit: "Hier bin ich, du hast mich gerufen". Ganz wesentlich ist auch,
wozu Samuel bereit sein muss und bereit sein wird. Leider spart unsere Leseordnung die Verse aus,
in denen berichtet wird, was Gott dem Samuel zu sagen hat: Dem Jungen wird die Schwäche seines
Lehrers Eli offenbart. Gerade wenn Samuel den Priester Eli als seinen Lehrer hoch geschätzt und
vielleicht sogar bewundert hat, dürfte es ihm nicht leicht gefallen sein, diese Botschaft zu hören.
Denn dies ist der Preis der Aufmerksamkeit: Wir müssen uns auch dem Negativen stellen und
bereit sein, unsere liebgewonnenen Ideale in Frage stellen zu lassen.
- An diesem Punkt ist diese Lesung für mich die Einladung
weiterzudenken. Und ich lade Sie ein, im
Gespräch mit einander hier weiter zu denken. Der Prozess der Aufdeckung
von Kindesmissbrauch
in den vergangenen zwei Jahren hat mich gelehrt, was uns hindert, Gottes
Wort zu hören. Es kann
schmerzhaft sein, es kann mich selbst in Frage stellen, wenn Gott mich
lehrt, hinzusehen, hinzuhören und zu verstehen. Deswegen hat auch die
Diskussion um den Umgang mit Missbrauch im
kirchlichen Raum in Deutschland noch lange nicht zu einem
gesellschaftlichen Umdenken geführt.
Aufmerksamkeit für Gottes Wort braucht eine Bekehrung bei uns, gerade
dort wo Gott durch die
Opfer von Gewalt in unseren eigenen Familien und Institutionen zu uns
spricht. Aufmerksamkeit
fordert da den Preis, alte Denkgewohnheiten sterben zu lassen. Es
braucht Mut zum Hören. Aber es
gibt auch den Lohn solcher Aufmerksamkeit. Wir können auf diesem Weg
wieder lernen, Gott
wahrzunehmen, ihn zu hören und zu sehen, wie er unter uns sein Heil
wirkt. Amen.