Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt zum 20. Sonntag im Lesejahr A 2014 (Römerbrief)

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17. August 2014 - Kleiner Michel (St. Ansgar), Hamburg

1. Juden und Israel

  • Jesus war Jude. Maria war Jüdin. Petrus, Johannes, Paulus, sie alle waren Juden und blieben es, als sie Jesus als den Messias erkannten und sich aufmachten, um Jesus nachzufolgen. Denn die Erkenntnis des Messias ist das Schönste, was einem Juden als Juden passieren kann - es ist die Erfüllung aller Hoffnung. Von ihrem Anfang her ist die christliche Kirche daher eine jüdische Gemeinschaft, die beansprucht den Gesalbten Gottes, der Israel verheißen war, in Jesus Christus zu erkennen.
  • Erst später kamen zu dieser jüdischen Gemeinschaft Menschen aus anderen Völkern hinzu; sie nennt die Bibel "Heiden" (lateinisch: gentes, Völker), und wenn sie getauft sind, sind es getaufte Heiden. Jeder von uns, der nicht der Herkunft nach Jude ist, ist nach biblischem Sprachgebrauch ein solcher Heidenchrist. Dass wir in Europa nicht nur die Juden außerhalb der Gemeinschaft der Kirche, sondern auch in unserer Mitte unterdrückt, vertrieben und der Vernichtung schutzlos anheim gegeben haben, erledigt nicht die Frage des Verhältnisses von Juden und Heiden in der Kirche; vielmehr stellt dies die Frage unabweislich vor uns. Beide neutestamentlichen Lesungen des heutigen Sonntags handeln von dieser Frage: Wie ist das Verhältnis von Heidenchristen und Judenchristen in der Kirche?
  • Die Liebe, die Gott seinem Volk Israel versprochen hat, ist unergründlich und treu. Es sagt viel über Gott, dass er alle Menschen heilen will, indem er unter allen Völkern ein Volk erwählt, sein Volk zu sein. Israel soll ein Segen sein für alle Völker (also für die "Heiden"), indem es ganz aus der Verbundenheit mit Gott lebt. So will sich Gott in der Liebe zu konkreten Menschen in einem konkreten Volk aller Welt offenbaren. Für Jesus und Paulus ist das selbstverständlich und klar; wir müssen es uns erst wieder in Erinnerung rufen.
    Daher zwei Fragen: Wie ist unser Verhältnis als heidenchristlicher Teil der Kirche zum ersterwählten Volk Gottes, zu Israel, seien es getaufte Juden, sei es die Gesamtheit des Volkes Israel? Und zweitens: Was folgt aus all dem über unser Verhältnis als Christen zu den Menschen, die weder Juden noch Christen sind? Beide Fragen will ich anhand der heutigen Lesungen zumindest kurz anreißen.
  • [Eine Bemerkung in Klammern. Wenn die Bibel von "Israel" spricht, dann sind damit die zwölf Stämme gemeint, gemäß den zwölf Söhnen des Stammvaters Jakob, genannt Israel. Nach den Verwüstungen der Assyrer 800 vor Christus ist von diesem Volk Israel nur ein Rest im Stamm Juda im Gebiet um Jerusalem übrig geblieben. Die Bezeichnung "Juden" nimmt darauf Bezug und wurde zur Zeit Jesu von Nicht-Juden verwendet. Wenn hingegen im Neuen Testament von "Israel" die Rede ist, dann ist meist das ganze Volk der Zwölf Stämme gemeint, das von Gott berufen ist und von dem jeder Jude glaubt und hofft, dass Gott es am Ende der Zeiten wieder herstellen wird. Im Namen "Israel" ist also das Handeln Gottes am Anfang und am ausstehenden Ende der Zeit mit gemeint.
    Der moderne Staat Israel ist dazu noch einmal etwas anderes, weil er eigentlich nicht religiös gegründet wurde, sondern vor allem die Reaktion auf die blutige Verfolgung und Ausgrenzung der Juden in Europa war. Insofern hat die Existenz des modernen Staates Israel dann doch wieder mit dem Verhältnis von Juden und Nichtjuden in der christlichen Kirche zu tun. Das wäre aber noch mal ein ganz anderes Thema.]

2. Heidenchristen und Israel

  • Israel - Gottes Volk - ist die von Gott gegebene Wurzel des christlichen Glaubens. Daran besteht auch für Paulus kein Zweifel. Gott hat eine Geschichte mit den Menschen begonnen und sich dafür ein Volk ausgewählt - ohne dessen Verdienst, nur aus unergründlicher Gnade und Liebe Gottes. Nur hier, in dem so durch die Geschichte geführten Volk, konnte Gott selbst Mensch werden, ohne dass dies an der Geschichte der Menschen vorbei ginge. Konkret wird das in Maria, dem Mädchen aus Israel, der Mutter des Erlösers.
  • Deswegen ist Israel für Paulus der natürliche Ölbaum und die Wurzel. Er vertraut darauf, dass Gott seinem Volk treu bleibt, auch wenn die Führer des Volkes und mit ihnen wohl die Mehrheit nicht erkannt haben, dass Jesus der von Gott gesandte Messias ist. Historisch ist diese 'Ablehnung' in seiner Heimat der Anstoß dafür, dass Apostel wie Paulus begonnen haben, unter anderen Völkern, den Heiden, den Glauben zu verkünden. Eigentlich wäre der 'Plan Gottes' - wie es etwa Jesaja darstellt - gewesen, dass die liebende Beziehung Israels zu Gott das Zeichen ist, an dem alle Völker Gott erkennen sollen. Aber bekanntlich ist es anders gekommen. Ein großer Teil Israels hat in Jesus den Messias nicht erkannt.
  • Paulus nun schreibt im Römerbrief gegen die Arroganz derer, die zum Bund Gottes hinzu gekommen sind, obwohl sie von Geburt her nicht zum Volk Israel gehören. Er schreibt an gegen die Arroganz von Neugläubigen, die sich über die Wurzel erheben, der auch ihr Glaube sich verdankt; leider ist dieser Satz aus der Lesung heraus gekürzt worden: "Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich."
    Mir scheint es dagegen ein inhaltlich unterscheidendes Merkmal des biblischen Glaubens zu sein, was ihn von Aberglauben verschiedener Art unterscheidet, dass dieser Glaube sich anderen verdankt und dankbar darum weiß. Das ist vielleicht nur ein notwendiges und kein hinreichendes Kriterium (d.h. dieses Kriterium alleine ist es noch nicht). Doch dieser Aspekt hilft, selbstkritisch zu fragen, wie es um den eigenen Glauben steht.

3. Heidenchristen und Neuheiden

  • Heute werden viele feststellen, dass sie sich nicht nur gegenüber der jüdischen Wurzel erheben; die praktizierte jüdische Religion ist den meisten ohnehin völlig unbekannt. Viele sehen sich aber zudem auch erhaben gegenüber der christlichen Wurzel; hier meinen sie zu wissen, was christlicher Glaube sei, auch wenn das nur sehr, sehr oberflächlich ist. Für sich selbst begnügt man sich mit einem ausgedünnten Werteaufguss, und distanziert sich zugleich mit erhobenem Haupt (und oft auch erhobenem Zeigefinger) von einem 'verkirchlichten' Glauben, über den man sich weit erhaben dünkt.
  • Hier passt das Bild aus dem Evangelium der Begegnung Jesu mit der kanaanäischen Frau. Sie ist gegenüber den Israeliten eine Außenstehende. Und sie weiß darum. Deswegen kann sie das Bild von den Hündlein gebrauchen, die von dem Brot der Kinder abbekommen, wenn es neben den Tisch fällt. Matthäus schildert den Glauben dieser Frau in der Begegnung mit Jesus als Mahnung an die Heidenchristen in seiner Gemeinde, die sich als die eigenlichen Hausherren fühlen und die Juden in ihrer Mitte wenig schätzen. Die Frau ist also ein Gegenbild.
    Ihre Haltung ist zwar nicht erst für uns heute eher fremd und anstößig. Aber sie ist der Prototyp eines zu tiefst gläubigen Menschen, der weiß, dass der Glaube nicht etwas ist, was sie sich selbst macht oder aussucht, sondern was Gott souverän schenkt und woran wir nur Anteil haben, wenn wir es uns schenken lassen.
  • In den staatspolitischen Debatten wird gerne behauptet, dass die demokratische Gesellschaft von Voraussetzungen lebe, die sie selbst nicht geschaffen habe. Da ist viel Wahres dran, denn die christliche und deswegen auch immer jüdische Glaubenstradition hat entscheidenden Anteil an unserer Rechtskultur. Die Verächter der Religion, die meinen humanistische Werte zu haben, sehen den Glauben als etwas, das vielleicht wichtig war, aber überwunden werden kann und wegen der 'Verbrechen der Kirche' (gemeint ist die katholische) überwunden werden müsse. Gerne wird dabei übersehen, dass diese Geschichte der Überwindung des Glaubens von der Französischen Revolution über den Biologismus und Nationalismus bis zu den anderen ideologischen Herrschaftssystemen des 20. Jahrhunderts eine Blutspur ohne Gleichen hinterlassen hat.
  • Wenn es eine Chance gibt, dass wir als Christen dazu beitragen, dass die Wurzel der postchristlichen Kulturen wieder stärker werden, dann sehe ich dazu eine unverzichtbare Voraussetzung: Dass wir Christen selbst uns erst einmal wieder bewusst werden, dass wir zumeist Heidenchristen sind, die von Voraussetzungen leben, die wir nicht geschaffen haben. Wir müssen in unserem christlichen Glauben das biblische Volk Israel ebenso wie das konkrete Volk der Juden weltweit wieder hochachten als das Volk Gottes, an dem Gott in Treue seine Liebe erweisen will, nach dem er sich sehnt und dem er den Weg des Heiles zeigen wird. Amen.