Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt zum 20. Sonntag im Lesejahr C 2022 (Jeremia)

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14. August 2022 - St. Peter, Sinzig

1. Wehrkraftzersetzung

  • Karl August Wiedenhofen und Aloys Odenthal ist es gelungen, nachts aus dem belagerten Düsseldorf rauszukommen. Ein Pfarrer hat ihnen geholfen, den Weg zu den amerikanischen Truppen in Mettmann zu finden und diese zu überzeugen, dass die Stadt kampflos übergeben werden wird. Die Gruppe, die das organisierte, war ein großes Risiko eingegangen. Einige von ihnen wurden von den Nazis wegen Wehrkraftzersetzung gelyncht. Trotzdem ist es gelungen. Statt Widerstand um den Preis der völligen Zerstörung ihrer Stadt haben mutige Menschen in der Nacht vom 16. auf den 17. April 1945 dem Morden ein Ende gesetzt und die Stadt kampflos übergeben.
  • Insofern kann uns vertraut sein, was das Alte Testament vom Propheten Jeremia berichtet. Die Stadt Jerusalem wurde von den Chaldäern, den Heeren des Babylonischen Großreiches belagert. Lebensmittel und Wasser waren knapp. Die Bevölkerung war am Ende. Aber die Eliten der Stadt, die Beamten am Hof des Königs, wollten Widerstand um jeden Preis. Nicht so Jeremias. Der Prophet forderte dazu auf, die Stadt den Babyloniern zu übergeben.
    "Er lähmt die Hände der Krieger, die in dieser Stadt übriggeblieben sind", wird ihm daraufhin vorgeworfen: Wehrkraftzersetzung. Sie werfen ihn in eine Zisterne – er überlebt nur, weil kein Wasser mehr darin ist und sich ein Fremder am Hofe, der Kuschíter Ébed-Mélech, für ihn verwendet und der wankelmütige König zulässt, dass der Prophet gerettet wird.
  • Zugleich sind wir mitten drin in einer ganz aktuellen Debatte. Teile der Ukraine werden seit sieben Jahren von Truppen der russischen Föderation besetzt und seit Februar dieses Jahres hat der russische Präsident seine Armee in einen Krieg gegen die ganze Ukraine geschickt. Hatte Wladimir Putin damit gerechnet, dass es in unter den Ukrainern viele gäbe, die wie der Prophet Jeremia fordern, das Land kampflos dem Eroberer zu überlassen?

2. Unterscheidung

  • Drei Situationen: Jerusalem 587 v. Chr. von den Chaldäern angegriffen und belagert, Düsseldorf 1945 von den USA und die Ukraine 2022 bis zum heutigen Tag. Immer geht es um die bedrängende Frage, ob Widerstand oder Ergebung, ob Verteidigung um den hohen Preis vieler Menschleben oder Kapitulation das Gebot der Stunde ist? Fordert Gott nicht durch den Propheten Jeremia die Ergebung und die Kapitulation? Ist Ergebung Unheil für das Volk – wie die Ankläger des Jeremia behaupten – oder im Gegenteil, Heil?
  • Die Bibel ist genau nicht das Buch göttlicher Ratschläge für jede Lebenssituation. Es hilft genau nicht zu denken: Da steht es geschrieben, das genau ist zu tun! – Wohl aber ist die Bibel in einem anderen Sinn unfehlbares Wort Gottes für uns. Denn sie zeigt, dass in der verzweifelten Entscheidungssituation die Antwort nicht gefunden werden kann, ohne sie im Angesicht Gottes zu sehen. Gerade in Situationen wie in Jerusalem, in Düsseldorf oder der Ukraine braucht es Menschen, die sich Gott anvertrauen und beginnen zu unterscheiden, worum es geht – und zu welchem Ziel es führt. Und Gott beruft solche Menschen.
  • Und dann sind die Unterschiede der drei Situationen offensichtlich.
    • Die Babylonier sind keine Gefahr für das Volk von Jerusalem, sie bedrohen nur die Herrschaft des Königs und seiner Beamten. Von dieser Elite weiß Jeremia: Sie hatten schon lange auf Gottes Gerechtigkeit vergessen.
    • Und die USA haben keinen Angriffskrieg gegen das Deutsche Reich geführt, sondern zusammen mit den anderen Alliierten einen Aggressor niedergerungen und das Deutsche Volk von einer menschenverachtenden Diktatur befreit, die um ihrer Ideologie willen Millionen Menschen in den Tod geschickt hat.
    • Und wieder anders ist es heute in der Ukraine, wo der eigentliche Grund des russischen Eroberungskrieges ist, dass sich die Ukraine in den letzten Jahren für Demokratie und Rechtstaatlichkeit, freie Meinungsäußerung und den unbedingten Wert der menschlichen Person entschieden hat. Darin wurde die Ukraine dem russischen Machtsystem gefährlich. Deswegen wird die Ukraine angegriffen, nicht das autokratische, korrupte System von Belarus.

3. Menschen

  • Geistliche Unterscheidung gelingt, wo sie das Doppelgebot im Blick hat: Gott und den Menschen zu lieben – und wo sie zugleich kritisch um die eigenen Interessen und Ver-suchbarkeiten weiß. Dabei zeugt das Alte wie das Neue Testament davon, dass Gott immer auf der Seite derer ist, denen Unrecht geschieht, der Witwen, der Waisen und der Fremden. Dieser Blick bewahrt davor, Herrschaft von Menschen zu vergöttern, menschliche Autorität und königliche Machtanmaßung an die Stelle Gottes zu stellen.
  • Ja, der König in Juda und Jerusalem sieht sich angegriffen durch die Babylonier. Doch in Gefahr ist nicht das Volk, sondern das königliche Machtgefüge. Die Freiheit des Volkes Gottes hatte dieser König schon lange den chaldäischen Göttern von Babylon geopfert. Deswegen braucht es den Mut des Jeremia der verkündet: "Wer zu den Chaldäern hinausgeht, der wird überleben!"
    Und ganz klar stehen Karl August Wiedenhofen und Aloys Odenthal auf der Seite der Menschen von Düsseldorf, als sie 1945 die Stadt kampflos übergeben, statt dem Befehl des Diktators Hitler zu gehorchen, der sich wenige Tage später durch Selbstmord der Verantwortung entziehen wird.
  • Was jedoch dies für den Widerstand der Ukrainer bedeutet? – Ich bin beeindruckt von den vielen Menschen, die sich mutig dem Aggressor entgegenstellen. An den Arbeitslagern und der politischen Unterdrückung in Russland sieht man, was diese Ukrainer für ihr Land nicht wollen. Ich hoffe es gelingt ihnen, im Widerstand das Ziel nicht zu verraten: der Mensch, seine Freiheit und Würde. Wird es gelingen, ukrainische Kriegsverbrechen zu vermeiden oder sie selbst zu benennen? Wird die Ukraine ertragen, dass es patriotische Bürger gibt, die aus Überzeugung dennoch nicht zur Waffe greifen wollen? Wird es gelingen bei der Wahrheit zu bleiben? Vielleicht sind es solche Fragen die helfen, in einer furchtbaren, schwierigen Situation – im Angesicht des lebendigen Gottes – die rechte Entscheidung zu treffen, was zu tun ist.