Predigt zum 21. Sonntag im Lesejahr C 2004 (Hebräerbrief)
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22. August 2004 - Universitätsgottesdienst St. Ignatius, Frankfurt
Zwischen 2000 und
2003 hat der dänische Regisseur Lars von Trier einen Film entstehen
lassen, der derzeit hier im Kino zu sehen
ist. "The
five Obstructions" (De Fem Benspænd) dokumentiert das
perfide Spiel, das von Trier mit Jørgen Leth spielt. Dieser war
sein Lehrer am Dänischen Film Institut. Er lebt in Haiti und leidet wohl
heftig unter Depressionen. Zu, wie er sagt, therapeutischen
Zwecken zwingt von Trier seinen Lehrer dazu, dessen 13minütigen Kurzfilm
"The
Perfect Human" (Det perfekte menneske) von
1967 erneut zu drehen. Allerdings legt er ihm dafür Begrenzungen und
Regeln auf, denen sich Leth unterwerfen muss. Die
diabolische Freude, mit der er dies tut, offenbart viel über den
Charakter von Lars von Trier. Entstanden sind dabei aber brillante
Kurzfilme von Jørgen Leth. |
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1. Unter Schutt
- Es gibt Texte aus der Heiligen Schrift, die unter einem Berg von
Müll verschüttet liegen. Hier lohnt es sich doppelt,
genauer hinzusehen. Zum einen lernt man viel über die Kultur, in der wir
wie selbstverständlich leben, wenn man
schaut, welcher Müll sich dort angesammelt hat. Zum anderen mag man
unter dem Ballast das ursprünglich Gesagte in
erstaunlicher Frische finden und etwas Wertvolles darin entdecken. Beim
12. Kapitel des Hebräerbriefes scheint es sich
um solch einen verschütteten Schatz zu handeln.
- Die Väter, die zu züchtigen pflegen, haben sich des Hebräerbriefes
gerne bedient. "Denn wo ist ein Sohn, den sein Vater
nicht züchtigt?" Dieser Satz aus der Lesung klingt wie ein
Freibrief. Voll Wonne stürzt sich die Struwwelpeter-Tradition
darauf, nach der dem Vergehen der Kinder die Strafe auf dem Fuße zu
folgen hat. Mit der unbarmherzigen Moral des
neunzehnten Jahrhunderts haben unzählige Kinder die Folgen am
wundgeschlagenen Leibe erfahren. "Wen der Herr
liebt, den züchtigt er" - wie der himmlische, so der häusliche
Vater. Und den pädagogischen Nutzen scheint der
Hebräerbrief sogleich zu liefern: "Jede Züchtigung scheint zwar für
den Augenblick nicht Freude zu bringen, sondern
Schmerz; später aber schenkt sie denen, die durch diese Schule gegangen
sind, als Frucht den Frieden und die
Gerechtigkeit."
- Diese ungute Tradition offenbart die volle Bigotterie. Dem eigenen
Autoritätsgehabe wird göttliche Legitimation
unterschoben. Wo die ein isoliertes Zitat aus der Heiligen Schrift der
eigenen, verqueren Pädagogik zu entsprechen
scheint, da wird die Bibel hemmungslos ausgebeutet und umgedeutet.
Bezeichnender Weise unterschlägt auch noch die
Textauswahl der heutigen Lesung genau die Verse, die diesen Missbrauch
in die Schranken weisen. Im Liedblatt haben
wir die im Lektionar gekürzten Verse daher mit abgedruckt. Denn der
Hebräerbrief selbst deckt auf, dass der Vergleich
des häuslichen mit dem himmlischen Vaters an der Stelle nicht stimmt: "Jene
haben uns für kurze Zeit nach ihrem
Gutdünken in Zucht genommen; er aber tut es zu unserem Besten". Die
Väter mögen es nur zu unserem Besten getan
haben. es bleibt aber Gutdünken und war häufig genug blanker Sadismus.
Wenn man auch nur etwas auf den
Zusammenhang im Kontext der Heiligen Schrift schaut, wenn es vom Glauben
und nicht von den eigenen Interessen her
gelesen wird, dann wird solcher Missbrauch unmöglich. - Was aber ist der
positive Gehalt dieser Lesung?
2. The Perfect Human
- Manche Erfahrung macht depressiv. Zunächst ist die Depression die
normale Reaktion auf das Unvermögen, das Leben
so zu gestalten, wie man es möchte. Zu viele Hindernisse legen sich in
den Weg, als dass man meint noch die Kraft zu
haben, dagegen zu halten. Das kann sich ins Krankhafte auswachsen.
Depression hingegen ist zunächst eine ganz
normale Erfahrung. Ich erinnere mich zum Beispiel an den Studenten, den
ich begleitet habe, während er seine
Diplomarbeit schrieb. Angesichts der Aufgabe fühlte er sich ganz klein.
Er hatte sogar vergessen, dass er doch ähnliche
Aufgaben in der Vergangenheit bereits bewältigt hatte. Ich musste ihn
erst daran erinnern, ihm immer wieder vor Augen
führen, dass das Hindernisse sind, mit denen er nachweislich fertig
werden kann.
- Ist der ständige Kampf mit Hindernissen denn ein Ideal? Wäre der
perfekte Mensch nicht einer, der sich ganz zeigen und
entfalten kann, wie er ist, ohne dass er sich immer wieder an den
Vorgaben anderer reiben muss? "Wie ich als Mensch
sein möchte, das soll sich doch nicht an der ständigen Begrenzung meiner
Freiheit erweisen, sondern an der
Verwirklichung meiner selbst."
Die Erfahrung aber ist eine andere. Ohne eine Aufgabe und ohne Grenzen,
gegen die wir anrennen, irren wir durch die
verwinkelten Flure und Stockwerke des Lebens, ohne zu wissen, wo wir
hinwollen und wo wir zu Hause sind. Wenn wir
versuchen, uns die perfekte Freiheit vorzustellen, dann bleiben wir in
einem leeren Raum, ohne Wände, ohne Konturen,
allein mit den paar Requisiten, die wir uns mitgenommen haben. Das wird
ein Tanz in der Leere des Raums, ohne
Tanzfläche. Letztlich ist dies ein Albtraum von Freiheit: völlig irreal
und schauderhaft.
- Die Hindernisse, die sich uns in den Weg legen, sind eine
Meditation wert. Nehmen Sie sich mal eine stille Stunde, und
gehen Sie die Etappen Ihres Lebens durch. Achten Sie auf das Ungeplante
und Unvorhergesehene. Schauen Sie das an,
das Ihnen Schmerz bereitet hat. Achten Sie auf die Mauer, die zu
überwinden aussichtslos war. Vielleicht entdecken Sie
bei solch einer Meditation, wie es genau diese Hindernisse waren, die
Sie herausgefordert haben, neue Wege zu suchen
und listige Alternativen zu erarbeiten. Manchmal sind wir Menschen
nirgends so frei wie dort, wo andere versucht
haben, uns diese Freiheit zu nehmen. Denn so werden wir gezwungen, uns
darauf zu besinnen, was wir denn wirklich
wollen. Und damit sind wir wieder beim Hebräerbrief.
3. Eine Ermutigungs-Predigt
- Der Hebräerbrief ist eine Ermutigungspredigt. Ausweislich des
klassischen Griechisch, in dem er verfasst ist, wurde er
von einem gebildeten Christen wohl der zweiten oder dritten Generation
geschrieben. Er richtet sich an Christen, die
müde geworden sind, ängstlich, verunsichert, halbherzig. Den Namen hat
der Brief bekommen, weil er ausgiebig
versucht, mit Beispielen aus dem (hebräischen) Alten Testament zu
erweisen, was Christus für uns bedeutet. Vielfach
bedient er sich dabei klassischer hebräischer Argumentationsformen. Und
auch hinter dem heutigen Abschnitt steht ein
Gedanke aus dem Alten Testament: Das erlittene Unheil wird gelesen als
eine Strafe Gottes. Es sieht aus wie eine
willkürliche Strafe nach der Art der Väter dieser Welt.
- Wenn aber Gott straft, dann sieht der Glaube zweierlei: Erstens
ist für den Glaubenden grundlegend, dass Gott nicht
willkürlich, sondern nur gerecht sein kann. Hinzu kommt im Hebräerbrief
ein zweites Argument: Die Züchtigung ist
doch auch eine Form der Zuwendung, wie eben die eines Vaters, der die
Erziehung des Kindes ernst nimmt, weil es sein
Erbe ist. So kann die Erfahrung der "Züchtigung" doch als Zeichen
genommen werden kann, dass uns Gott tatsächlich
als seine Kinder und Erben angenommen hat. Diese Argumentation kommt uns
merkwürdig vor, ist im damaligen
Horizont aber üblich. Aber auch wenn das Argument für uns schwer
nachvollziehbar ist, der dahinter liegende Gedanke
ist taufrisch. Aus den Hindernissen, die sich uns entgegenstellen, sogar
aus dem Leid, das uns widerfährt, sollten wir
nicht vorschnell und aus unserer Froschperspektive schließen, dass Gott
uns nicht liebt, dass ihm unsere Freiheit nichts
wert wäre und dass seine Heilszusage hinfällig wäre. Nicht nur die
Streicheleinheiten sind Gotteserfahrung. Auch Leid,
das uns geschieht, kann zu Gott führen.
- Wichtig ist dabei: Es geht nicht um Ethik oder Moral. Gerade beim
Vergleich des himmlischen mit dem irdischen Vater
wird deutlich, dass es dieser Lesung nicht um die Frage geht, ob
väterliche Gewalt gegen Kinder "gut" oder "gerecht" ist.
Wenn uns Unrecht geschieht, ist es Unrecht, das geschieht. Wer Unrecht
tut, muss dies verantworten.
Hier aber ist die Frage, wie ich, als Betroffener, mit etwas, das mich
begrenzt und schmerzt, umgehe. Ob es Naturgewalt
oder das Handeln andere Menschen ist, bleibt für diese Frage
zweitrangig. Vergessen wir auch die Fälle, in denen
Widerstand gegen das Unheil möglich ist. Denn es bleibt eine
Grundkonstante unseres Lebens, dass es voll Grenzen,
Hindernissen, ja auch Schmerzen ist. Die Botschaft der Lesung aber ist:
Gerade hier können wir ansetzen, uns neu zu
entwerfen, indem wir uns auf die Liebe besinnen, die uns Gott im Glauben
geschenkt hat. Amen.
Nachtrag: In Gesprächen nach dem Gottesdienst
stellte sich heraus, dass das Argument des Hebräerbriefes für manche in
den Generation bis ca. 30 Jahre gar nicht so abwegig ist. In dieser
Generation gibt es durchaus das Phänomen, dass Eltern,
Väter insbesondere, sich der Aufgabe der Erziehung verweigert haben, die
Kinder nicht als "Sohn" oder "Tochter"
angenommen, sondern als "Freund" behandelt und letztlich in vielem
allein gelassen haben.