Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt zum 30. Sonntag im Lesejahr B 2000 (Markus)

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29. Oktober 2000 - khg Universitätskirche St. Nikolai, Göttingen, (Semestereröffnungsgottesdienst)

1 Schreien oder und Schweigen

  • Warum nicht schreien und rufen? Schreien, weil um mich herum eine Welt aufgebaut ist, die ich nicht verstehe und die keinen Platz für mich hat. Rufen: "Ich möchte sehen!"
    Womöglich ist der blinde Bettler nicht das ideale Bild, um uns darin wieder zu finden. Aber das Gefühl, am Straßenrand zu sitzen und nicht zu sehen und nicht zu verstehen, was vor sich geht, ist uns vielleicht doch bekannt. Da läuft das große Rad der Weltgeschichte, nur wo und warum, kann mir keiner erklären. Da sehe ich täglich Hunderte ja Tausende zielstrebig laufen - und dann beschleicht mich die Angst, dass ich der Einzige bin, der nicht weiß wohin.
  • Wer von Geburt an blind ist, mag nicht wissen, was das ist, zu Sehen. Wer aber weiß, was sehen ist, der sehnt sich zurück. Als Kinder war die Welt für uns noch übersichtlich. Tief in uns ist die Erinnerung an eine Welt, die klare Koordinaten hatte. Bezeichnenderweise aber war dies eine Welt, in der wir keine Verantwortung hatten, nicht einmal für uns selbst. Jetzt ist das anders, aber dafür sind die klaren Koordinaten weg. Blinde am Rand unseres eigenen Weges.
  • Warum schreit der Blinde in uns nicht "Ich möchte wieder sehen!"? Wir brauchen nicht andere, die uns das Schreien verbieten. Wir bringen uns selbst zum Schweigen. Weil es uns vor anderen peinlich ist, weil wir ohnehin keine Aussicht auf Erfolg haben, weil, weil... - schreien wir nicht.
    Einfacher ist es, sich selbst gegenüber der Blindheit blind zu machen. Es gibt ein reichhaltiges Angebot an Narkotika, um nicht zu merken, was ich nicht merke, um nicht zu sehen, was ich nicht sehe, um die Angst zu verdrängen, dass ich durch eine Welt torkle, die ich nicht verstehe. Statt dessen wird uns das Gefühl gegeben, zielgerichtet auf Punkte zuzusteuern. Dass diese Punkte, Erlebnisse, Genüsse, Abschlüsse keine Verankerung im Raum haben, fällt dann kaum noch auf.

2. Der Blinde von Jericho

  • Im Evangelium sind die Rollen verteilt. Da ist Bartimäus, der blinde Bettler am Ortsausgang von Jericho. Er hört, dass auf der Straße eine größere Gruppe vorbei geht. Er erfährt, dass es Jesus von Nazareth ist, den sie den Christus nennen. Da beginnt er zu schreien.
    Auf der anderen Seite sind die, die mit Jesus auf der Mitte der Straße gehen. Vermutlich schreiten sie, erhobenen Hauptes. Diese anderen wollen den schreienden Bettler am Rand zum Verstummen bringen. Er stört die Szene. Er stört das Bewusstsein auf einem historischen Marsch zu sein.
  • Möglicherweise sind die Grenzen doch nicht so eindeutig: dort der blinde Bettler, hier die Leute bei Jesus in der Mitte der Straße. Möglicherweise stellt der Bettler für die auf dem Weg eine Gefahr da, denn seine Blindheit ist ein Bild dafür, dass sie zwar mitgehen, auf der Mitte der Straße. Aber entweder wissen sie nicht wohin - oder sie laufen mit, unmündig wie Kinder. Die Szene in Jericho spielt auf dem Weg nach Jerusalem. Schon drei Mal hat Jesus versucht, seine Jünger sehend zu machen in Bezug auf das, was ihm in Jerusalem bevorsteht. Die ignorante Reaktion seiner Jünger war unüberbietbar. Sie gehen mit Jesus, aber sie sehen nicht und sie verstehen nicht. Wie eine Mauer in ihrem Inneren ist da eine Blockade.
  • Der blinde Bartimäus schreit. Erst schreit er laut. Dann er schreit er noch viel lauter. Der Text betont das so, dass man stutzig wird. Wo spielt diese Geschichte? Das Evangelium berichtet: Am Ortsausgang von Jericho. Der Ortsausgang aber ist an der Stadtmauer. Viele Jahrhunderte zuvor wurde hier schon einmal geschrien. Jericho ist die älteste uns noch bekannte Stadt der Welt. Irgendwann um die Mitte des zweiten Jahrtausends vor Christus wurde die Stadt am Jordan von den Israeliten erobert. Aus dieser kriegerischen Frühzeit stammt die Legende, dass siebenmal die Lade des Herrn um die Stadtmauern von Jericho getragen wurde. Dann bliesen die Priester sieben Posaunen und das ganz Volk fing an zu schreien - so lärmig, dass die Mauern von Jericho in sich zusammen fielen. Beim Zug durch die Wüste war die Posaune das Signal zum Aufbruch. Hier vor Jericho ist es das Signal, Mauern zum Einsturz zu bringen.

3. Sehen und Gehen

  • Kein Zweifel. Der blinde Bartimäus ist eine der wichtigen Symbolfiguren im Evangelium. Er ist blind und weiß das. Aber er lässt sich dadurch nicht isolieren und abschieben. Er schreit. Er schreit bis die Mauern der Ignoranz und die Mauern der Isolation um ihn herum aufbrechen. Er schreit so lange bis die Leute ihn nicht mehr abweisen können, so lange bis die Leute nicht mehr ignorieren können, dass Jesus ihn ruft.
  • Dabei ist es keineswegs so, dass Bartimäus gewusst hätte, was er will. Er schreit nicht, weil er ein Ziel hat, sondern weil er vor einer Mauer steht. Wie der Weg hinter der Mauer weitergeht, ist noch völlig unklar. Als Jesus ihn fragt, was er denn will, sagt er: "Ich möchte wieder sehen können!". Mehr erwartet Bartimäus von Jesus nicht. Aber es ist schon genug.
    "Ich möchte wieder sehen können!" Er will nicht, dass Jesus ihm die Entscheidung abnimmt, wohin er geht. Er will sehen können, um entscheiden zu können und seinen Weg gehen zu können. Die Mauern sollen fallen, auch wenn sie sich weich verpackt geben wie eine Gummizelle. Die Dunkelheit soll weichen, auch wenn sie einlullt und beruhigt. "Ich möchte wieder sehen können!"
  • Das Evangelium endet damit, dass Bartimäus Jesus folgt auf dessen Weg. Möglicherweise ist Bartimäus der Einzige, der ahnt, worum und wohin es geht. Möglicherweise ist er der Einzige, der nicht blind ist gegenüber dem Leben. Er weiß, dass in Jerusalem kein Freizeitpark und kein Wellness-Erlebnis auf ihn warten. Aber er sieht, dass dieser Weg der einzige ist, auf dem er nicht die Augen verschließen muss vor der Realität. Und dies ist der Weg, auf dem er einem vertrauen kann. Sehend vertrauen. Amen.