Predigt zum 31. Sonntag im Lesejahr B 2012 (Hebräerbrief)
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4. November 2012 - Kleiner Michel (St. Ansgar), Hamburg
1. Gottes- und Nächstenliebe
- "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst".
Dieser Satz ist längst Allgemeingut geworden.
Dass wir einander in Liebe und Respekt begegnen sollten, das spricht
eine Wahrheit aus, die wir
als Menschen tief in uns tragen. Und doch könnte stutzig machen, dass
Jesus - ganz in der
Tradition Israels - beides betont: Gottes- und Nächstenliebe. Und dabei
steht für ihn die Gottesliebe, mit aller Seele, Kraft, Gedanken und
Herzen, an erster Stelle.
- Christlicher Glaube beginnt mit der Ahnung und tastenden Erfahrung des Gottes, der mehr ist als
moralische Sätze. Gerade, wenn ich gewahr werde, dass bei Jesus Nächstenliebe universal ist,
wird mir klar, dass ich dazu nur fähig werde, wenn ich mich zugleich (oder doch zuvor?) auf diese
größere Wirklichkeit ausrichte. Und genau darum geht es dem Hebräerbrief im Neuen Testament,
aus dem wir heute die zweite Lesung gehört haben.
- Der Brief formuliert das so, dass es für die Christen damals verständlich war: Jeder wusste, dass
es die Aufgabe von Priestern ist, Menschen mit Gott zu verbinden. Israel hat es als besonderes
Geschenk Gottes erlebt, dass Gott im Tempel von Jerusalem einen Kult zugänglich gemacht hat,
in dem diese Verbindung in einzigartiger Weise dargestellt und erlebt werden konnte. Der
Hohepriester trat einmal im Jahr durch den Vorhang, der das Zentrum des Tempels verdeckte. Der
Hohepriester hatte dabei sozusagen die Gebete des ganzen Volkes im Gepäck. Damit tritt er vor
Gott, der einerseits ganz verhüllt ist; denn Gott ist ja nicht ein Teil dieser Welt ist. Andererseits
hat Gott selbst in den Bundestafeln, die im Tempel aufbewahrt wurden, seine Gegenwart
zugänglich gemacht. Der Inhalt dieser Tafeln sind die Gebote, die Jesus zusammenfasst: Gottes-
und Nächstenliebe.
2. Der Himmel berührt die Erde
- Der Tempel in Jerusalem ist seit bald 2.000 Jahren zerstört. Für uns ist diese ganze Bildsprache
daher schwer zugänglich. Aber der Inhalt des Bildes ist selbst denen ganz präsent, die nur noch
eine schemenhafte Ahnung von dem Ursprünglichen haben. Denn jeder Mensch kann erfahren,
dass Liebe die Begrenzung auf einen selbst übersteigt, und erst durch diesen Überstieg das Leben
seinen Sinn findet. "Wo Menschen sich verschenken, die Liebe bedenken und neu beginnen, ganz
neu, da berühren sich Himmel und Erde" (aus dem Text des Liedes: "Wo Menschen sich
vergessen" von Thomas Laubach und Christoph Lehmann).
- Das scheint dann der Weg zu sein, Himmel und Erde zu verbinden. Die Momente geglückter
Liebe bestätigen es. Biblisch gesprochen: Der Liebende ist der Priester, der die Erde mit dem
Himmel verbindet.
Der Hohepriester, der in einem Kult diese Liebe nimmt und zeichenhaft vor Gott trägt, ist dabei
überflüssig geworden. [Dabei wäre es interessant zu überlegen, ob in der Moderne nicht andere
'Priester' dieses Amt übernommen haben, symbolisch zu handeln, etwa medial aufgeladene
Figurationen.] Es ist aber, genau genommen auch Gott überflüssig. Die Liebe schafft sich doch
selbst den Himmel auf Erden. Deswegen kommen so viele mit Nächstenliebe als einzigem
Glaubenssatz aus. Alles andere in der Bibel, im Glauben und in der Kirche halten sie für überflüssig.
- Wo alles an meiner Liebesleistung hängt, bricht jedoch auch alles zusammen, wenn sie mir nicht
gelingt. Deswegen war die eigentliche Aufgabe des Hohenpriesters am Tempel ja auch der Ritus
der Versöhnung. Nicht nur die Liebe des Volkes zu Gott hat der Hohepriester symbolisch in das
Innerste des Heiligtums gebracht, sondern auch das Eingeständnis des Scheiterns.
Die Menschen haben dann in der Liturgie des Versöhnungsfestes von Gott ein Geschenk
empfangen: Ein Kult, der anzeigt, dass Himmel und Erde verbunden sein können, auch wo wir
scheitern. Auch wo Menschen in ihrem Versuch zu lieben versagen, können sich Himmel und
Erde berühren; Gott selbst will "neu beginnen, ganz neu". [Das feiert Israel im Jom Kippur-Fest,
dem großen Versöhnungstag.] Gott macht neue Liebe möglich, indem er in diesem Fest seine
Versöhnungsbereitschaft und Barmherzigkeit anzeigt, durch die der Himmel die Erde berührt,
auch dort wo menschliche Liebe gescheitert ist.
3. Christus, der ewige Hohepriester
- Davon also spricht der auf den ersten Blick für uns so schwer zugängliche Hebräerbrief. Er macht
deutlich, worin das Neue besteht, zu dem in christlicher Sicht der Ritus im Tempel von Jerusalem
hinführte. "Im Alten Bund folgten viele Priester aufeinander, weil der Tod sie hinderte zu bleiben;
er aber hat, weil er auf ewig bleibt, ein unvergängliches Priestertum." Das heißt: Auch vor Jesus
gab es sichtbare Versöhnung mit Gott, die Gott ermöglicht hat, indem er Priester in Israel berufen
hat. Himmel und Erde konnten jährlich im Versöhnungsfest wieder verbunden werden.
- Aber durch die Menschwerdung in Jesus Christus hat gleichsam Gott selbst das Priesteramt
übernommen, Himmel und Erde zu verbinden. Die Liebe soll für alle Menschen und zu allen
Zeiten über das Scheitern hinaus möglich sein. Die Ewigkeit, nach der jede Liebe sich sehnt, ist in
der Liebe des einen da, der seine Arme am Holz des Kreuzes ausgebreitet hat, um alle Menschen
zu umfangen.
- Christsein bedeutet von daher mit Christus zu sein, mit ihm zu leben und zu lieben. Auch Christen
erleben Scheitern. Aber sie wissen, dass Gott dieses Scheitern bereits auf sich genommen hat,
damit wir dadurch nicht niedergedrückt werden.
Der Priester, der hier in der Kirche am Altar steht, kann und muss nicht neu etwas opfern, damit
Versöhnung möglich ist. Er macht nur die Versöhnung sichtbar, er feiert mit der Gemeinde, dass
wir teilhaben an der Liebe Christi, dem ewigen Hohenpriester. Auf ihn hin zu leben, bedeutet neu
anfangen zu können. Nicht wir müssen durch unser Lieben den Himmel auf die Erde zwingen; wir
feiern die Liebe, die uns versöhnt und trägt. Wir lassen uns von Gott segnen und mit seiner
Gegenwart speisen, um neue Kraft zu gewinnen, neu zu beginnen, neu zu lieben. Amen.