Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt zum 4. Sonntag der Osterzeit Lesejahr A 2011 (Johannes)

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15. Mai 2011 - Kleiner Michel (St. Ansgar), Hamburg

  Das Hausschaf ist ein ruhiges, geduldiges, einfältiges, willenloses und feiges, kurzum ein langweiliges Geschöpf. Es bekundet eine Unfähigkeit zu lernen und sich selbst zu helfen, wie sie bei keinem Haustiere weiter vorkommt. Seine Furchtsamkeit ist lächerlich. Jedes unbekannte Geräusch macht die ganze Herde stutzig, Blitz und Donner und Unwetter überhaupt bringen sie gänzlich außer Fassung und vereiteln nicht selten die größten Anstrengungen des Menschen. So ist denn auch das Schaf wohl das einzige Haustier, das nie verwildert ist. Aber man darf nicht vergessen, dass die genannten geistigen Eigenschaften dem Hausschaf durch den Menschen angezüchtet sind. Ein eigenwilliges, selbständiges Tier dauernd in großen Herden zu halten, wäre wohl ganz unmöglich. So musste denn der Mensch alle bei den wilden Schafen seinen Wünschen entgegenstehenden geistigen Eigenschaften langsam herauszüchten, was auch bei den meisten Rassen gelungen ist.
Brehms Tierleben. Kleine Ausgabe für Volk und Schule. Vierter Band: Die Säugetiere. Leipzig 1927.

 

1. Schafe und Hirten

  • Das Schaf ist ein Tier, das nicht unmittelbar zur Identifikation einlädt. Etwas anderes mag es mit dem kleinen Lamm sein. In der biblischen Tradition ist es zum Sinnbild der Gewaltlosigkeit geworden. Lämmer sind herzige Tiere. Erst das ausgewachsene Schaf kann nicht mehr durch Herzigkeit das überdecken, was uns diesem Tier so wenig geneigt macht: eine gewiss dröge Art.
  • Wenn Jesus dennoch in verschiedensten Bildern immer wieder auf das Schaf zurückgreift, dann ist ihm die Beziehung zwischen Schaf und Mensch wichtig. Schafe sind gesellige Herdentiere und treu. Das Vertraute Verhältnis zwischen Hirt und Schaf ist Jesus so wichtig, dass er uns zumutet, uns als Schafe zu sehen.
  • "Uns" ist dabei nur bedingt allgemein gemeint. Denn zum Glück für die Betroffenen sind einige von uns ja auf die Seite der "Hirten" gewechselt. "Pastor" ist die wohlige Anrede der Schafe für ihren Hirten. Ich vermute, dass der Drang aus dem Schafspferch in die Hirtenrolle nicht auf Kleriker beschränkt ist, sondern auch von anderen kirchlichen Mitarbeitern verspürt wird. Und vielleicht nicht nur von kirchlichen.

2. In der Rolle des Hirten

  • Vor einigen Jahren ging beim Provinzial der Jesuitenprovinz eine Selbstmorddrohung ein. Eine nicht mehr ganz junge Frau drohte sich umzubringen, wenn wie angekündigt ein Pater als Hochschulpfarrer abgesetzt würde. Auch andere aus der - wie immer gesagt worden war - sehr lebendigen und aktiven Gemeinde gingen auf die Barrikaden, im wörtlichen Sinn.
  • Der betreffende Pater hatte viele Jahre gute Arbeit geleistet. Die Kirche war voll, wenn er predigte. Die Hochschulgemeinde (Studierende gehörten nur in kleinerer Zahl zum engeren Kern) war nicht Durchschnitt, sondern voll engagiertem Christentum. Im Mittelpunkt dessen stand der Pfarrer, der Pastor. Er entschied, wer zum inneren Kern stoßen kann und wer nicht. Bei ihm waren Exerzitien zu machen, wollte man den Weg finden.
    Symptomatisch für mich war, die sanfte und überzeugende Weise, in der er sprach, und die harte Weise, in der jeder, der mit ihm zu tun bekam, sich entscheiden musste: Bist Du für oder gegen mich. Es war also nicht einfach so, dass dieser Pfarrer umstritten war. Das sind viele. Er und die Gemeinde, die sich um ihn gesammelt hatte, teilte vielmehr die Welt in Freund und Feind.
  • Es handelt sich hier sicher um ein extremes Beispiel. Aber am Extrem wird das Allgemeine deutlich. Weh dem Schaf, das einem machtbewussten Hirten ausgeliefert ist. Das beginnt nicht erst beim Herrn Pastor und endet nicht dort. Das kann in der Familie beginnen oder in der Jugendarbeit. Das kann den charismatischen Lehrer oder Professor betreffen, aber auch im ganz privaten Freundeskreis vorkommen. Und weiter oben auf der hierarchischen Leiter findet man sicher auch genug Beispiele. Die charismatische Persönlichkeit verliert die kritische Distanz zu sich selbst und wird zum Hirten, der weiße und schwarze Schafe sortiert. Weiße Schafe erkennt man daran, dass sie dem Hirten nachtrotten.

3. Der gute Hirt

  • Die Gleichnisse, die Jesus gebraucht, haben dem gegenüber eine kritische Kraft. Wenn Jesus im Evangelium so exklusiv von sich als gutem Hirten und als Tür zu den Schafen spricht, dann kann ich in die Rolle des Hirten nur noch drängen, indem ich Christus verdränge.
    Jesus stellt das Bild eines umfriedeten Hofes vor Augen, in dem über Nacht die Schafe untergebracht sind. Ein Türhüter, der im Gleichnis sonst keine Rolle spielt, bewacht den Pferch. Im ersten Teil des Gleichnisses macht Jesus deutlich, dass er selbst offen und durch den Haupteingang eintritt. Im zweiten Teil betont er die Vertrautheit, die ihn mit den Schafen verbindet. Ganz unrealistisch - welcher Hirt hat einen Namen für alle seine Schafe? - geht er sogar so weit, dass er jede und jeden einzelnen beim Namen kennt und ruft. Diese Vertrautheit und dieses Wiedererkennen kann jeder Menschen erleben, der Jesus begegnet und nicht irgendeinem Betrüger. Im dritten Teil des Gleichnisses schließlich bricht Jesus die Symbolik noch einmal um und spricht von sich als der Tür. Nur wer durch diese Tür eintritt, wird das Leben haben.
  • Der Anspruch Jesu, der in diesem Gleichnis liegt ist absolut. Es macht noch einmal deutlich, dass es unmöglich ist, sich zu Jesus zu bekennen ohne zugleich sich zu ihm als Sohn Gottes zu bekennen. Denn anderenfalls wäre dieser Anspruch Irrsinn oder Verbrechen.
    Zugleich ist dieser Anspruch aber auch die zentrale Erklärung, warum Jesus ausweislich der Evangelien in der Zeit vor der Kreuzigung so auffällig ein Geheimnis daraus gemacht hat, dass er der Messias sei. Denn erst durch das Kreuz und die Auferstehung wird aus der Bindung an Jesus etwas anderes als die Bindung an einen Menschen. Der Mensch Jesus, wie er konkret auf Erden lebte, ist der Sohn Gottes nur in seiner Hingabe, nicht in seiner Herrschaft. Diese bricht erst mit dem Zeugnis des Kreuzes an und verweist auf die Vollendung, die aussteht.
  • In genau dieser Weise muss jede Autorität und jedes Charisma eines Menschen relativiert werden. Jesus ist nicht die Tür, die den hindurchschreitenden Pastor legitimiert. Jesus ist die Tür, durch die die Schafe hindurchgehen zum Leben. Das hat unmittelbare Konsequenzen für jedes Amt in der Kirche und für jeden Anspruch auf Gefolge, den ein Mensch erhebt. Der kommende Christus allein ist der Hirte und allein ist die Tür. Jeder gegenwärtige Mensch hat die großartige Berufung, sich diesem Christus anzuschließen und durch diese Tür zu gehen. Auf verschiedene Weise haben auch gegenwärtige Menschen die Berufung, andere für diesen Weg zu begeistern. Das geht nicht, ohne selbst glaubwürdig und begeisternd zu sein. Wer sich aber selbst an die Stelle Jesus setzt, zerbricht an diesem Anspruch. Er oder sie hat vergessen, dass wir gemeinsam Schafe sind: manchmal vielleicht ein wenig dröge Schafe, aber immer solche, die Jesus kennt und beim Namen ruft. Drum: Lasset uns blöken! Amen.