Predigt zum 9. Sonntag im Lesejahr A 2008 (Deuteronomium)
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1. Juni 2008 - Universitätsgottesdienst St. Antonius, Frankfurt
1. Frei und in Ketten
- Schwer zu sagen, ob wir heute freier sind, als die Menschen anderer Zeiten.
Wer oben auf dem Drahtseil balanciert, hat freien Raum nach allen Seiten.
Aber er steht unter der ständigen Notwendigkeit, sein Gleichgewicht herzustellen,
will er nicht abstürzen. Und doch: Würde er lieber zwar festen Boden
unter den Füßen haben, aber dafür Fußfesseln und drückende
Schwerkraft ertragen wollen?
- Die klassischen Bindungen haben sich aufgelöst. Man kann heute seinem
Heimatort oder gar -land den Rücken zukehren, die Familie (so überhaupt
vorhanden) zurücklassen, man kann in der Anonymität der Großstadt
untertauchen, niemand Rechenschaft schuldig außer dem Finanzamt und
der GEZ. Und für die, die es im Leben nicht so gut erwischt haben, kommen
noch die Stunden beim "jobcenter" dazu, oder wie auch immer das Sozialamt
nach den Hartz-Reformen firmiert.
- Wir können unser Leben selbst entwerfen, wenn auch im Rahmen der finanziellen
Verhältnisse. Und gerade wer da gut dastehen will und nicht zufällig
viel geerbt hat, unterwirft sich schon bei der Vorbereitung auf einen lukrativen
Job harten Bedingungen. Im Job wird das nicht unbedingt besser. Ja, selbst
beim Geld-Ausgeben, wo wir doch eigentlich völlig frei sind (soweit das
Portemonnaie reicht), dürften wir uns vielfach als Getriebene des Trends
wiederfinden. Frei sind wir und doch in Ketten. Ach, Jean-Jacques Rousseau,
wenigstens von den Ketten der Religion wolltest du uns befreien.
2. An Gott gebunden
- Die Worte werden um das Handgelenk gebunden. Wohl erst im zweiten nachchristlichen
Jahrtausend wurde diese biblische Aufforderung zum Zeichen auch wörtlich
verstanden. Riemen mit dem Wort Gottes am Arm, Kapseln mit Gottes Wort an
der Stirn. Deutlicher kann ein frommer Jude nicht ausdrücken, dass er
das annimmt, was der Bund mit Gott fordert: Sich binden an Gottes Wort. Diese
Juden erinnern uns daran, dass Christsein nichts anderes bedeutet: hinzu getreten
sein zu diesem Bund.
- Ganz ausdrücklich jeder Einzelne ist gemeint. Es gibt im 6. Kapitel
des Buches Deuteronomium eine Parallele zu der heutigen Lesung aus dem 11.
Kapitel. Aber da wird das Volk Israel als ganzes, im Singular mit Du angeredet.
In der heutigen Lesung aber spricht Gott durch Mose jeden Einzelnen an: "Diese
meine Worte sollt ihr auf euer Herz und auf eure Seele schreiben. Ihr sollt
sie als Zeichen um das Handgelenk binden." Das gilt auch uns, zum Bund
Israels Hinzugekommenen. Als Zeichen wird das Wort Gottes als Fessel am Handgelenk
getragen.
- Uns liegt vielleicht das Bild Jesu vom Haus auf dem Felsen näher als
das Bild von der Fessel um das Handgelenk. Aber in der Sache muss sich jeder
von uns die Frage stellen, ob wir unseren Glauben als beliebigen Halsschmuck
am Kettchen tragen wollen, oder ob wir uns von Gott in Fesseln legen lassen:
Wissend und vertrauend darauf, dass nur diese Fesseln frei machen, glaubend,
dass Gott selbst diese Bindung eingeht, den Bund, in dem wir Halt finden,
"wenn ein Wolkenbruch kommt und die Wassermassen heranfluten, wenn die
Stürme toben und an dem Haus rütteln."
3. Das Wort tun
- "Ihr sollt also auf alle Gesetze und Rechtsvorschriften, die ich euch
heute vorlege, achten und sie halten." Für die Alten konnte dies
Freiheit bedeuten. In Zeiten, in denen der Mensch von Volk und Sippe und Herkunft
bestimmt war, geben die "Gesetze und Rechtsvorschriften" dem Einzelnen
gegenüber der Willkür der Gruppe und ihrer Anführer ein verbindliches
Instrument in die Hand, ihr Recht zu fordern. Diese Wirkung des göttlichen
Gesetzes ist vielfach belegt, wo starre Strukturen aufgebrochen werden konnten,
weil Gottes Autorität schwerer wiegt als jede menschliche und weil jeder
Mensch von Gott unmittelbar angesprochen sich darauf berufen kann.
- Ob das Wort Gottes für uns heute Freiheit verbürgt, müssen
wir erst noch herausfinden. Die meisten von uns sind nicht die Bodenverwurzelten,
für die das Haus auf festem Grund unmittelbar sprechendes Bild wäre.
Wir sind die ständig nach Balance suchenden Trapezkünstler: frei
hoch über der Manege und doch daran gebunden, ständig unser Leben
neu entwerfen und ins Gleichgewicht bringen zu müssen. Ständig müssen
wir dabei die Seiten-, Auf- und Abwinde im Blick behalten, um nicht abzustürzen.
Aber dafür sind wir frei von vielem anderen. Ob wir auch frei sein wollen
von Gott - das ist die uns vorgelegte Entscheidung. Ob dies für uns Segen
ist oder Fluch, das ist die Frage, die sich jeder selbst beantworten muss.
- Eines aber wird nicht funktionieren: reine Theorie. "Wer aber meine
Worte hört und nicht danach handelt, ist wie ein unvernünftiger
Mann, der sein Haus auf Sand baute." Wer meint, im Glauben den Halt zu
finden, damit er weiter auf dem Drahtseil tanzen kann, aber den Glauben auf
der Sparflamme reiner Theorie hält, wird irgendwann merken, dass das
nicht geht. Es ist wie in einer Beziehung. Ich kann nicht nur darüber
reden. Ich muss sie leben. Glaubenswissen, lebendige Gottesbeziehung und eine
Praxis im Geist der Bergpredigt gehören untrennbar zusammen. Allerdings
können wir darauf bauen, dass schon Gott es nicht bei Worten belassen
hat. Er selbst ist Mensch geworden. Er selbst hat die Liebe gelebt. Jeder
von uns wird in seinem Leben dieses Handeln Gottes finden können. Die
Freiheit des Glaubens schwebt nicht im Nichts. Sie vertraut auf Gottes Treue.
Amen.