Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt zum 1. Fastensonntag Lesejahr B 2003 (Vor dem Irakkrieg)

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9. März 2003 - Universitätsgottesdienst, St. Ignatius Frankfurt

1. Angesichts der Welt, wie sie ist (I.)

  • Si vis pacem para bellum. Die alte Weisheit des römischen Imperiums ist erschlagend richtig: Willst du den Frieden, bereite den Krieg vor. Angesichts der Welt, wie sie ist, führt an der Nüchternheit dieser Weisheit nichts vorbei.
    Nach 1945 konnte die Expansion der sowjetischen Diktatur in der Mitte Europas gestoppt werden. Fünfzig Jahre später wurden auch die Völker des damaligen Ostblocks inklusive Russlands von dieser Diktatur befreit. Zu verdanken ist das zweifelsfrei auch der Entschlossenheit des Westens. Und auch die umfassende Kontrolle des kleptokratischen, sein eigenes Volk erbarmungslos ausraubenden Gewaltherrschers in Bagdad durch die UN im letzten halben Jahr wäre ohne die Entschlossenheit zum Krieg als ultima irratio unmöglich gewesen.
  • Nur, wenn es nun zum Krieg kommt, dann zeigt sich, dass dies eben kein letzterfolgreiches Friedenskonzept ist. Es ist lediglich ein strategisches Konzept in einer unvollkommenen Welt. Vor allem aber ist es ein Konzept zur Eindämmung nur der Symptome. Es geht nicht an die Wurzel. Die Gewalt und die Aggression, die der Krieg letztinstanzlich bekämpfen will, kann dadurch gemildert werden oder gesteigert. Abgeschafft wird sie dadurch nicht.
  • Es ist ein Ventil, tragischerweise ein unentbehrliches Ventil, um die große Explosion zu verhindern, die droht, weil der Topf zu lange erhitzt wurde. Insofern ist der einfache Pazifismus realitätsblind. Es gibt Kriege, die haben mit Schlimmem Schlimmeres beendet oder verhindert. Das abzuschätzen und Entscheidungen zu verantworten ist schwer. Aber Gut-Böse-Dualismen helfen dabei gerade nicht, weil sie den Realismus, den sie für sich in Anspruch nehmen, durch eine neuerliche Vereinfachung des Weltbilds unterlaufen. Gut-Böse-Dualismen meinen das Böse im Anderen bekämpfen. Si vis pacem para bellum. Das ist eine Weisheit Angesichts der Welt, wie sie ist. Mehr aber auch nicht.

2. Angesichts der Welt, wie sie ist (II.)

  • Mit dem 11.September 2001 und nun (möglicherweise? bald?) dem Irakkrieg erreicht die Welt das Beben, das durch zu lange ignorierte fundamentale Spannungen ausgelöst wurde. Es ist eine tragische Eruption, denn es wird die Spannungen nicht einfach lösen. Vielmehr ist es die Realität, die uns hier einholt.
    • Die Realität ist nicht die Frage, ob wir durch milliardenschweren Aufwand und Stammzellenforschung den rundum gesunden Menschen schaffen. Die Realität ist, dass der bei weitem größere Teil der Menschheit nicht einmal zu medizinischer Grundversorgung Zugang hat.
    • Die Realität ist nicht die In-vitro-Fertilisation und nicht die pränatale Diagnostik. Die Realität ist Überbevölkerung einerseits und millionenfach verhungernde Kinder andererseits.
    • Die Realität ist nicht eine Wirtschaftskrise, die viele Deutsche zwingt, auf den zweiten Urlaub im Jahr zu verzichten. Die Realität sind viele hundert Millionen Flüchtlinge weltweit.
    • Die Realität ist nicht stetig wachsender Wohlstand und Fortschritt. Die Realität sind riesige Länder und ganze Kontinente mit einer Jugend, die nicht gedemütigt und abgeschrieben sein will, sondern ihre Chance einfordert - auch mit Gewalt, auch mit Terrorismus - aber auch zu Recht.
    • Die Realität ist - mit einem Wort - nicht unsere zentraleuropäisch-westliche-Mittelstands-Welt, sondern die Eine Welt, die eine ganze Welt.
  • Wenn unsere Welt aus Frieden und Wohlstand besteht: Lasst uns Gott danken! Aber lasst uns zuvor schauen, ob dies auch ein zutreffender Blick auf die Wirklichkeit ist. Denn alle historische Erfahrung lehrt uns, dass wir bei diesem Blick mehr oder weniger Realität ausblenden. Über lange Zeit ist der Ausschnitt eher größer geworden, denn kleiner, der Ausschnitt dessen, was wir nicht zum Teil unseres Weltbildes gemacht haben. Welche Scheindebatten haben uns bewegt in der Diskussion um Cyberworld und Stammenzellenforschung! Dabei haben wir noch nicht einmal die Arbeitslosigkeit bei uns daheim im Griff, noch weltweit AIDS und Lepra, ja noch nicht einmal einen simplen Schnupfen.
  • Wie fähig sind wir, den ersten Schritt zu tun und die Welt nüchtern zu sehen, wie sie ist?
    Ich weiß nicht, was aus unserer kleinen Welt, aus unserer Republik und Gesellschaft in der Mitte Europas wird, wenn uns die Realität einholt. Was eine Krise ist, haben wir in den bald sechzig Jahren dieser Republik nicht erfahren, denn bisher ging es letztlich immer nur bergauf, leichtere Talsenken inklusive. Was sind die Fundamente, was sind die fest eingezogenen Stützbalken unserer humanistischen Gesinnung und unserer Demokratie, wenn es nicht mehr für mindestens zwei Drittel unserer Bevölkerung bergauf geht? Was, wenn ein Teil der ganzen Einen Welt, wie sie ist, uns einholt?
    Ich habe Vertrauen in unsere Demokratie. Weimar war anders. Aber Erfahrung mit der Reaktion einer in ihrem Wohlstand ernsthaft gefährdeten Freizeit- und Erlebnisgesellschaft haben wir nicht. Ich wünsche mir, dass auch diese Krise vorüber geht. Ich weiß aber, dass sie ein Teil der Welt ist, wie sie ist.

3. Die Welt, wie sie ist, im Angesicht

  • Die Lesungen des ersten Sonntages der Fastenzeit schlagen den weiten Bogen von der Urerfahrung der die Welt überschwemmenden Gewalt zu jenem einem, der in die Wüste ging, um sich dem Teufel zu stellen - um an die Wurzel des Unheils zu gehen. Die Lesungen stellen sich der Realität.
    Die Bibel stellt an den Anfang, gleich nach dem Glauben an die gute Schöpfung Gottes, den Realismus. Von der Lüge Adams über die Gewalt des Kain gegen seinen Bruder Abel bis zur alles überschwemmenden Flut der Gewalt und Ungerechtigkeit geht dieser Realismus. Zugleich aber nimmt uns die Schrift hinein in den Bund, dessen Zeichen der Regenbogen ist. Der Bund, in dem Gott die Menschen führen will, dass sie auf eigenen Füßen hindurchgehen durch die Flut.
    Ganz ebenso stellt sich Jesus der Realität und der Dämonen, die in dieser Welt, wie sie ist, um Einfluss buhlen. Jesus geht in die Wüste, heißt es " und wurde vom Satan in Versuchung geführt." Aber auch hier erfährt Jesus wie Noach den Regenbogen, dass der Vater bei ihm ist, ihn der Realität, der er sich stellt, nicht ausliefert. Das Evangelium berichtet: "... und die Engel dienten ihm."
  • Hier setzt für uns das Evangelium ein. Weder die Bibel, noch diese Predigt will ein Leitfaden zur perfekten Depression sein. Sie ist vielmehr der Weg zu einem lebbaren Realismus. Die Hl. Schrift nimmt die Welt, wie sie ist, fest in den Blick - und wendet sich von dort mir selbst zu: Der Weg in die Wüste führt zu mir, meiner eigenen Realität. Jesus geht diesen Weg, um darauf aufbauend zu verkünden: "Kehrt um!", "metanoiete!", ändert euren Sinn, eure Richtung, eure Sicht auf die Welt.
    Si vis pacem para te ipsumWenn du Frieden willst, bereite dich selbst. Kein Weg führt daran vorbei, in die Wüste zu gehen, und sich den eigenen Dämonen, den kollektiven und den privaten Lebenslügen zu stellen, die Welt, wie sie ist, in den Blick zu nehmen, als Vorbedingung jedes neuen Anfangs.
  • Das Evangelium ist frohe Botschaft, weil es die Linie zieht von dem einen, der in die Wüste gegangen ist, über die vielen, die ihm durch zwanzig Jahrhunderte darin nachgefolgt sind, bis hin zu uns am Beginn der Fastenzeit. Diese Zeit kann eine Einübung sein in Realitätssinn. Auch der ganz konkrete Verzicht kann die Sinne schärfen, dass die ganze Welt zwiespältig, uneindeutig, größer als unsere kleine Welt ist. Der eigentliche Name der Fastenzeit ist "Österliche Bußzeit". Bußzeit ist es, denn wir lassen in dieser Zeit die schmerzhafte Wirklichkeit an uns heran. Österlich ist diese Zeit, denn sie bereitet uns vor auf das Fest der Auferstehung, das wir feiern, weil in diese Welt das Fest eingebrochen ist, das wir feiern. Die Welt im Angesicht schauen wir aus nach dem, was die Realität verändert. Wir selbst sind ein Teil davon. Amen.