Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt zum 3. Fastensonntag Lesejahr C 2004 (Lukas)

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11. Februar 2004 - Fachbereich Kath. Theologie, Universität Frankfurt

Lesung 1 Kor 1,18-30
Evangelium Lk 13,1-5
Der Film Gattaca (1997) von Andrew Niccol spielt in einer nahen Zukunft, in der es Dank Pränataldiagnostik eigentlich keinen Grund mehr gäbe, Kinder mit erblichen Mängeln, schlechten Augen oder drohenden Herzrythmusstörungen zur Welt zu bringen. Nach dem Gesetz sind immer noch alle Menschen gleich. Die ökonomische Realität aber sieht schon längst anders aus.

1. Fremde Themen

  • Es gibt Schrifttexte, die haben auf den ersten Blick so überhaupt nichts mit unserer Situation zu tun, dass man sie schnell überblättert. Bei manchem Stück aus der Heiligen Schrift liegt das daran, dass die zu Grunde liegende Frage so eng mit einem bestimmten gesellschaftlichen und kulturellen Kontext verbunden ist, dass es uns Heutigen nichts mehr sagt. Ich habe aber die Erfahrung gemacht, dass etwas aus dem Evangelium mir deswegen nicht sofort entgegenruft: Hallo, das ist mein Thema!, weil wir das Thema in unserer Kultur so kunstvoll sublimiert und integriert haben, dass wir es gar nicht mehr so ohne weiteres entdecken. Beim heutigen Abschnitt aus dem Lukasevangelium scheint mir das der Fall zu sein.
  • Während Jesus zu einer größeren Menschenmenge des Volkes spricht, kommen "einige" zu ihm mit einer für die Zeit typischen Frage: Der Statthalter Pilatus hat - historische Hintergründe kennen wir nicht - eine Gruppe Pilger im Tempel beim Opfern niedermetzeln lassen. Während es doch offensichtlich fromme Menschen waren, die da zu Tode kamen, trifft sie schlimmes Unheil. Nach (vor allem von Pharisäern betonter) Lehre der Zeit ist solches Unheil die Strafe für begangene Schuld. Wie also kann solche Schuld bei frommen Pilgern vermutet werden? Warum trifft sie das Unheil?
    Jesus selbst bringt ein weiteres Beispiel: Beim Bau eines Turmes sind achtzehn Menschen umgekommen. Nach herkömmlicher Auffassung wurde gesagt: Diese Strafe hat Gott über sie kommen lassen.
  • Die Vorstellung vom Unglück als Strafe Gottes scheint uns überholt. Allerhöchstens die umgekehrte Frage treibt manche heute noch um: Wie kann Gott das zulassen? Insgesamt aber hat unser Weltbild Gott schon längst aus der Verantwortung für Ereignisse in der Welt entlassen. Wissenschaft erklärt Ursache und Wirkung. Gott ist, wenn überhaupt, dann nur noch für das Programm zuständig, nach dem die Welt programmiert wurde. In Geschichte und Ereignis ist kein Bedarf für die Hypothese "Gott".

2. An der Oberfläche

  • An der Oberfläche hat das Evangelium seine Brisanz verloren. Vielleicht aber auch nur dort. Vielleicht läuft bei uns unter der Schicht, die sich mit wissenschaftlicher Realität schmückt, ein Weltgefühl weiter, das zwar ohne Gott auskommt, aber nicht ohne Schuldzuweisung oder Schuldvermutung. Große Unglücke können wir meteorologisch, tektonisch, politisch oder wie auch immer erklären. Krankheiten haben ebenso Ursachen. Wenn sich keine Viren oder Keime finden lassen, sind es die Gene. Alles ist erklärbar. Selbst die Arbeitslosigkeit findet ihren makroökonomischen Kommentar.
  • Dennoch traue ich der Oberfläche nicht. Ich kann es nicht beweisen und nicht belegen. Ich habe aber meine Vermutung, dass unser heutiges Weltbild zwar ohne das vorchristliche Bild, dass alles Unglück Gottes Strafe für Schuld sei, auskommt. Es nistet aber die Vermutung in den Eingeweiden unseres Denkens: Irgendwie müsse schon schuld sein, wer Unglück auf sich zieht. "Keine Strafe ohne Schuld" hieß das zur Zeit Jesu. Das Gefühl, der Betroffene müsse selbst daran Schuld sein, hat etwas Verlockendes, denn, wenn es nicht so wäre, dann wäre auch ich selbst in Gefahr, dass mich das selbe Unglück trifft.
  • Die Naturwissenschaft widerspricht dem nicht. Sie verschiebt allerhöchstens die Verantwortung. Wenn Krankheit nicht durch offensichtliches direktes Eigenverschulden ausgelöst ist, dann sicher doch dadurch, dass der Betreffende nicht "gesund gelebt" habe. Wer nicht täglich zur Nacht den neuesten Gesundheits- oder Fitness-Ratgeber liest, der trägt selbst Schuld an seiner Krankheit. Und kann auch das nicht nachgewiesen werden, dann sind es - beweisbar! objektiv! - die Gene. Dann trägt nicht der Einzelne die Schuld, sondern dessen Eltern, die auf Pränataldiagnostik verzichtet und ein Kind mit solch anfälligen Genen zur Welt gebracht haben. Was für die Medizin gilt, gilt für die Arbeitslosigkeit (mangelnde Ausbildung, fehlender Leistungswille) und für fast jedwedes Unheil (schließlich gibt es die Rundum-Sorglos-Versicherung und den Airbag).

3. Umkehr

  • Das alles hat traurige Reichweite. In der Gesundheitspolitik werden höhere Versicherungsbeiträge diskutiert, für die, die nicht "gesund leben". Die Starken sollen nicht länger durch die Schwachen belastet werden. In der Hochschulpolitik werden Eliteuniversitäten diskutiert. Bei ihnen allein ist das Geld gut investiert. Es läuft darauf hinaus, dass man eine Eliteschicht heranzüchten will. Wer unter die Räder kommt, ist selbst daran schuld. Wie die Leute, die beim Einsturz des "Turms von Schiloach erschlagen wurden".
  • Jesus schließt nicht aus, dass die Opfer selbst Schuld haben. Aber er dreht die Perspektive um. Er lässt die entlastende Schuldzuweisung nicht zu, sondern gibt die entscheidende Frage an die Fragesteller zurück: Wie steht es um euch selbst? Wer meint, dass sich die Starken, Gesunden, Überlebensfitten absetzen könnten, der täuscht sich gewaltig. "Nein, im Gegenteil: Ihr alle werdet genauso umkommen, wenn ihr euch nicht bekehrt."
  • Wir sind hart dran an einer Renaissance des Sozialdarwinismus. Das späte 19. Jahrhundert hatte in der ganzen westlichen Welt eine wissenschaftsgläubige, biologistische Ideologie geschaffen, die im Rassenwahn der Jahre 1933 bis 1945 in die Praxis umgesetzt wurde. So weit sind wir zum Glück noch nicht. Aber wir sollten wachsam sein. Das Schicksal unserer Kultur wird sich daran entscheiden, ob wir die Schwachen und Kranken aussondern, oder ob wir sie achten, schützen und fördern. Der Trend geht zur Elitenförderung und Aufmendelung. Die Frohe Botschaft des Evangeliums aber lautet: Es muss nicht so kommen, wenn wir uns denn bekehren. Amen.