Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt zum 4. Fastensonntag Lesejahr C 1998 (Lukas)

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22. März 1998 - Kolleg Sankt Georgen, Frankfurt/Main

1. Lesung Jos 5, 9a.10-12
2. Lesung 2 Kor 5,17-21
Evangelium Lk 15, 1-3.11-32
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Filmpredigt zu: Atom Egoyan: "The Sweet Hereafter"/"Das süße Jenseits" (1997)

(Die Sage vom Rattenfänger von Hameln)

1. Der eine geht, der andre bleibt

  • Das Gleichnis im Evangelium erzählt uns von zwei Brüdern. Aber obwohl wir doch scheinbar viel über den Charakter der zwei erfahren, bleibt doch vieles offen. Es bleibt offen, warum der jüngere Bruder weggeht. Was war sein Antrieb, was war sein Motiv? Und es bleibt offen, wie es zwischenzeitlich dem älteren ergeht. Wie blickt er dem jüngeren nach, was spielt sich in seiner Seele ab, nachdem jener gegangen und er treu zu Hause geblieben ist?
  • Erinnern Sie sich an die Geschichte der Kinder, die weggelaufen sind, dem verlockenden Spiel des Rattenfängers verfallen? Diese Kinder haben der Stadt Hameln die Zukunft geraubt, sie waren weg. Aber: Eines der Kinder kam zurück. Weil es krank war und nur langsam mit Krücken daherhumpelte, konnte es nicht so schnell laufen wie die anderen. Als es zum Berg kam, waren die anderen Kinder schon durch das Tor verschwunden, in ein süßes Jenseits, neu und unbekannt.
  • Das eine Kind kam in die Stadt Hameln zurück und wurde seines Lebens nicht mehr froh, weil alle anderen Kinder weg waren. Die Zurückbleibenden tragen die Last.
    Die Kinder von Hameln sind dem Rattenfänger nicht nur nachgelaufen, weil dieser so wunderbar auf seiner Flöte gespielt hat, sie sind weggelaufen, weil er ihnen eine andere Welt versprochen hat, neu und unbekannt. Weil er versprochen hat, sie aus dem bitteren Diesseits in ein süßes Jenseits zu führen(1). Die einen folgen dem Ruf, die anderen bleiben - und werden bitter.

2. Das süße Jenseits

  • Mit der Vertreibung aus dem Paradies ist der Mensch in der Heimat fremd und sehnt sich zurück nach dem Paradies. In der Gegenwart nicht zu Hause, in der Heimat fremd bleibt die Sehnsucht und Suche nach dem anderen Ort und gärt der Neid auf jene, die sich dorthin aufgemacht haben. (Im Gleichnis des Lukasevangelium wird der Zustand der Heimat, aus der der jüngere Sohn wegläuft, nicht geschildert. Hier sind auch die Grenzen des Gleichnisses, denn es ist gerade nicht die Nähe zum Vater, die der Sohn erlebt hat.)
  • Der jüngere Sohn geht nicht zufällig verloren; er wird auch nicht heimtückisch verführt. Er bricht aus eigenem Entschluss auf, lässt die verletzten Eltern und den Bruder zurück und folgt der Verheißung eines anderen Lebens, neu und unbekannt. Er ist auf der Suche nach dem Verlorenen. Die eigentliche Enttäuschung ist: dass auch das Neue so schäbig ist, wie das Alte. Schlimmer noch: das, was er hatte, hat er verloren, er bringt seine Talente durch, muss mit den (unreinen) Schafen leben und hat alle Würde verloren.
  • Gleichermaßen enttäuscht ist der ältere Bruder. Er war nicht schnell genug, um mit zu laufen und sitzt daheim. Er frisst sich auf in Zorn auf den Weggelaufenen, der das Haus öde zurückgelassen hat.
    Mit Händen greifbar ist die Situation am Esstisch der Familie: der ältere Sohn spricht es nicht an und gibt doch insgeheim jedem am Tisch Schuld daran, dass der Junge durchbrennen konnte. Gerade weil er es selbst so gern ihm gleich getan hätte, verliert er jede Freude an Zukunftsplänen.
    Der Neid gegen den aufgebrochenen jüngeren Bruder wendet sich schnell gegen die eigene Umgebung - und jeder im Haus wird etwas dazu beigetragen haben. Das süße Jenseits erst, fern und unerreicht, macht das Diesseits bitter. Die Hoffnung, zu der ich mich selbst nicht durchringen kann, der Weg, den ich nicht mitgehen kann, wendet sich gegen das Leben selbst.

3. Mögliche Heimat

  • Das Evangelium vom verlorenen Sohn ist die Botschaft von der möglichen Heimat - für den Weggelaufenen und für den Daheimgebliebenen, für beide in ihrem Scheitern. In die Spannung zwischen Wirklichkeit und Hoffnung, zwischen verlorenem und verpasstem Paradies tritt ein Vater, der nicht im Zurechnen von Schuld und im Anhäufen von Vorwürfen groß ist, sondern in der Freude über den Menschen, seinen Sohn und seine Tochter.
  • Der jüngere Sohn, der weggelaufene und in der Fremde heruntergekommene und verlorene Sohn, glaubte nicht nur kein Anrecht mehr auf die Heimat zu haben, sondern auch keine Möglichkeit mehr. Das Evangelium ist die Freude des Vaters über seine Rückkehr anstatt der erwarteten mühseligen Katharsis, des Berechnens, Aufrechnens, Auf- und Abarbeitens all dessen was passiert ist. Von jedem Punkt aus ist Rückkehr möglich, weil jeder Punkt des Lebens Gegenwart vor Gott ist.
  • Viel realer für uns ist aber die Situation des älteren Bruders. Das Evangelium ist Befreiung auch für ihn, den daheim verlorenen Sohn: dass Leben hier im Diesseits möglich ist.
    Du musst nicht der Verheißung des "neu und unbekannt" folgen, weglaufen in ein imaginäres Jenseits. Du musst auch nicht in der bangen Frage über das verpasste Leben versinken. Das Reich Gottes bricht hier an, wo Du lebst, weil hier Gott gegenwärtig ist und Mensch geworden.
    An dieser Gegenwart und nicht an der verpassten Chance misst sich das Leben. Denn nur hier lebe ich, nicht träumerisch süß, nicht bitter, sondern wahrhaft und in der Nähe Gottes. Amen.

 


 

1. Es kann als sicher gelten, dass hinter der Legende vom Rattenfänger ein historischer Kern steckt. Vermutlich wird in der Erzählung die Anwerbung von Siedlern für Osteuropa im Spätmittelalter reflektiert. Ob es sich um die Ansiedlungen im heutigen Rumänien handelt ist allerdings umstritten. Das Detail des einen Kindes, das zurückbleibt, habe ich in der deutschen Fassung der Legende nicht gefunden. Im Film wird mehrfach das Gedicht von Robert Browning "The Pied Piper of Hamelin" zitiert.