Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt zum 7. Sonntag der Osterzeit Lesejahr B 2000 (Johannes)

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4. Juni 2000 - St. Michael, Göttingen

1. Judas

  • Ausgerechnet am heutigen Sonntag - zwischen Himmelfahrt und Pfingsten - tischt uns die Heilige Schrift das Thema Judas auf. Nicht nur in der Lesung aus der Apostelgeschichte. Dort werden die Konsequenzen daraus gezogen, dass einer die Zahl der Zwölf verlassen hat. Auch im Evangelium ist von Judas die Rede. Jesus betet: "Und ich habe sie behütet, und keiner von ihnen ging verloren, außer dem Sohn des Verderbens, damit sich die Schrift erfüllt."
  • Es sind mithin zwei Themen, mit denen wir uns auseinander setzen dürfen - respektive müssen.
    Das eine ist die Sorge Jesu, dass wir in ihm bleiben und behütet bleiben und nicht verloren gehen. Das andere ist die Feststellung Jesu, dass einer sich dieser Einheit mit Gott in Christus entzogen hat, dass er verloren gegangen ist und - Höhepunkt! - Judas ging verloren, "damit sich die Schrift erfüllt".
  • Es gibt viele Versuche herauszufinden, was die Motive für den Verrat des Judas gewesen sein mochten. Manche haben versucht, Judas zum eigentlichen Helden umzudeuten. Aber all das steht nicht in der Hl. Schrift. Was dort steht ist so unerhört radikal, dass es zumeist ausgeschwiegen wird. Ein Grund mehr, den Versuch zu wagen, zu verstehen, was dort gemeint ist.

2. Symbolische Wirklichkeit

  • Die Schrift ist immer nur vom Zentrum her zu deuten. Das Evangelium verkündet von dem historischen Jesus von Nazareth, dem Sohn der Maria, dass er der Messias und Sohn Gottes ist. In ihm ist Gott und er ist in Gott. Oder, um es mit den Worten aus dem heutigen Evangelium zu sagen: Christus hat sich für uns geheiligt, er hat seine Existenz ganz dem Heiligen geöffnet, dem was nicht durch die Mächte der Welt, sondern durch Gott bestimmt ist. Obwohl er doch mitten in der Welt greifbar ist, ist in ihm doch der "heilige Vater" angesprochen und gegenwärtig.
  • Dadurch nur ist es möglich, dass die individuelle Existenz eines Menschen eine Bedeutung bekommt, die weit über seine Zeit und seinen sehr engen Wirkungskreis hinausgeht. Die Bedeutung ergreift den ganzen Kosmos. Christus verkörpert real Gott inmitten der Welt. Daher ist es so entscheidend, wie wir uns zu ihm verhalten. Es ist nicht beliebig. Hier ist brennpunktartig das Schicksal des Kosmos zusammengefasst. Jeder, der mit Jesus in Berührung kommt - bis heute! -, wird in diesen Zusammenhang hineingezogen.
  • Nur am Rande sei bemerkt, dass Jesus nicht zufällig aus dem Volk Israel hervorgegangen ist, sondern dies im Ersten Bund angekündigt und zugrundegelegt ist. Israel, das Volk der Juden, ist das auserwählte Volk Gottes und ist daher zum realen Symbol der Auserwählung geworden - einer Auserwählung, die das Volk nicht selten als Verhängnis erlebt hat. Kein Volk hat den Vernichtungswillen der Neuzeit so am eigenen Leibe erlitten wie das jüdische. Nur aufgrund der "heiligen Realität" des Volkes der Juden, kann das Johannesevangelium immer wieder von "den Juden" sprechen, auch dort wo das Volk den Messias zurückweist und ans Kreuz schickt: Gerade in diesem Augenblick repräsentiert das Volk Israel die ganze Menschheit, die Gott zurückweist.

3. Bewahrt oder verloren?

  • Mit all dem im Hinterkopf sollen wir hören, dass Judas den Herrn verrät, "damit sich die Schrift erfüllt". Das individuelle, frei von Judas entschiedene Verhalten wird zur Erfüllung, fast notwendigen Erfüllung der Schrift.
    Dabei ist die "Notwendigkeit" des Verrates nicht, dass Judas keine andere Wahl gehabt hätte. Vielmehr ist umgekehrt der Verrat an Gott schon längst vor Judas in der Welt und dieses Weltverhängnis durchfährt den Judas, er lässt sich von ihm ergreifen(1). Nur so kann der kosmische Verrat jetzt auch zum individuellen, schicksalsauslösenden Verrat werden. Nur so wird Judas zum "Sohn des Verderbens" (nicht dessen Vater!).
    Judas ist ganz im Volk Israel beheimatet. Er mag folglich diesen Zusammenhang im Augenblick des Verrates ahnend wissen. Er stürzt sich in dieses Verderben und entzieht sich der sammelnden Liebe Jesu.
  • Dieses dramatische Schicksal vor Augen wird erst deutlich, mit wie viel Nachdruck Christus bei seinem Abschied um die Einheit der Jünger betet und darum, dass sie vor dem Bösen bewahrt werden. Es geht nicht darum, Judas zu verdammen. Wir sollten an ihm unseren Glauben an die Größe der Gnade Gottes bewähren. Es geht nicht darum, unsererseits Judas zur Hölle zu wünschen. Vielmehr sollen wir "vor dem Bösen bewahrt" werden. Darum geht es im Gebet Jesu.
  • Wir werden vor dem Bösen nicht dadurch bewahrt, dass wir angstvoll vor ihm zittern. Im Gegenteil: das Böse ist vor Gott durch Christus entmachtet. Wer Höllenfurcht predigt, hat daher das Evangelium nicht verstanden.
    Vielmehr wird deutlich, dass Christus uns in die Schicksalsgemeinschaft seiner Auferstehung hineinnehmen will. Wir sind dazu berufen, uns an diesem einmaligen Menschen, dem einmaligen Gott aufzurichten, weil er uns in die Heiligkeit des Vaters führt. Amen.

Anmerkung

1. So deute ich Joh 13,27: "Als Judas den Bissen Brot genommen hatte, fuhr der Satan in ihn."