Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt zum 7. Sonntag im Lesejahr B 2003 (Markus)

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23. Februar 2003 - Universitätsgottesdienst, St. Ignatius Frankfurt

1. Lähmende Sackgasse

  • "Sackgasse - keine Wendemöglichkeit" ist, so möchte man meinen, ein eindeutiges Verkehrsschild. Eindeutig ist es vielleicht, aber offensichtlich nicht ausreichend. Auf der Suche nach einem Parkplatz oder gar auf der Suche nach einem unentdeckten Schleichweg fährt immer wieder ein Auto in die Sackgasse, blind darauf hoffend, dass das mit dem "keine Wendemöglichkeit" so genau nicht gemeint sein möge.
  • Vielleicht steht das Warnschild nicht immer so deutlich dran. Dennoch ist das Verhalten typisch. Aus Leichtsinn oder Übermut, aus Nachlässigkeit oder vielleicht zumeist nur aus bodenloser Dummheit fahren wir in Sackgassen, obwohl wir es besser wissen oder wissen könnten. Menschen verrennen sich in eine neue Beziehung, obwohl sie wissen oder wissen könnten, dass das nur Flucht vor der alten Beziehung ist und die neue auch sehr schnell wieder alt aussieht. Menschen starten Projekte in der Hoffnung auf den großen Durchbruch, obwohl sie wissen oder wissen könnten, dass sie dem nicht gewachsen sind. Menschen verplempern wertvolle Zeit angesichts einer Prüfung oder Aufgabe, die vor ihnen liegt, obwohl sie wissen oder wissen könnten, dass sie keine Zeit zu verlieren haben. Menschen stecken im Supermarkt etwas ein, riskieren kleine und größere Betrügereien, ebenso unnötig wie gefährlich, obwohl sie wissen oder wissen könnten, dass es nichts Gutes bringen kann. Erst danach weiß man, was man zu Anfang hat wissen können: "Sackgasse - keine Wendemöglichkeit"!
  • Am Ende der Sackgasse reagiert man verschieden. Man kann hin und her fahren, parkende Autos anrempeln, blind den Rückwärtsgang einlegen. Das sieht zumindest nach Aktivität aus. Es gibt aber Sackgassen im Leben, bei denen nichts übrig bleibt als lähmende Beklemmung. Das Gefühl, nicht mehr ein noch aus zu wissen; der Abgrund; nicht mehr zu wissen, was das Ganze soll; die quälende Frage, was ich mir da angetan habe oder wohin andere mich geschoben und gebracht haben, all das kann sich zusammenfügen zur Paralyse aller Lebenskräfte.

2. Mein Kind

  • Wir sollten versuchen, den Klang der Anrede ins Ohr zu bekommen, mit der Jesus zu dem Gelähmten spricht. Die deutsche Übersetzung sagt: "mein Sohn". Auf einer Tragbahre ist der Mann zu Jesus gebracht worden, von vier Helfern auf abenteuerliche Weise durch das Dach bugsiert. Ein beeindruckender Glaube muss die vier Freunde motiviert haben, die diese Aktion unternahmen, um den Gelähmten trotz des großen Andrangs zu Jesus zu bringen. Der Herr zeigt sich von diesem Glauben beeindruckt und spricht den Gelähmten mit dem Wort "téknon" an, was die zärtliche Anrede der Eltern für ihr Kind ist. Die zuwendende Zärtlichkeit dieser Anrede sollten wir ins Ohr bekommen, um zu verstehen, was hier geschieht. Der von den Massen umdrängte und bejubelte, der mit göttlicher Vollmacht sprechende Jesus lässt alles um sich versinken, um sich diesem Menschen zuzuwenden: "Mein geliebtes Kind".
  • Diese Anrede ist nicht herablassend, sondern zuwendend. Mehr noch, sie ist bedingungslos. Das wird an der Kürze des nun folgenden Satzes deutlich. "Deine Sünden sind dir vergeben!" Das ist alles, das ganze "Gespräch". Natürlich ist ohnehin das Evangelium ein Text, der in präziser, verdichteter Sprache spricht. Für die Zusammenfassung der gesamten Verkündigung Jesu braucht Markus (1,15) nur drei Sätzchen um deren sprachliche Kürze ihn selbst die Bild-Zeitung beneiden würde: "Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium!" Der Satz an den Gelähmten, "Deine Sünden sind dir vergeben!" ist ebenso kurz, sagt alles.
  • Hinzu kommt, dass der Satz überraschend das Thema wechselt. Denn die vier Freunde, die den Gelähmten auf der Bahre gebracht hatten, waren in dem Glauben, dass Jesus dessen Lähmung heilt. Jesus tut dies auch, aber anders als erwartet. Er beschränkt sich nicht auf die Lähmung der Muskeln, sondern sieht die Lähmung des Menschen. Jesus heilt nicht Symptome, sondern Ursachen. Der Tiefe und Mitte des Menschen gilt seine Zuwendung. Der ganze Mensch ist von ihm angesprochen: "mein geliebter Sohn!"

3. Bedingung und bedingungslos

  • Wir wissen nichts aus der Biographie des Gelähmten. Deswegen ist der einzige Weg, das Evangelium zu verstehen, unsere eigene Biographie an dessen Stelle zu setzen. Das ist das Evangelium. Wir sind gemeint. Jesus sieht in dem Gelähmten einen Menschen, der mit dem Gefühl der Heillosigkeit in eine Sackgasse geraten ist. Ein Mensch, der von Depressionen nieder gedrückt nicht mehr in der Lage ist eigene Wege zu gehen, gar Auswege zu finden. Er sieht einen Menschen, bei dem in heilloser Verwirrung eigenes Versagen und belastende Schuldgefühle angesichts seiner Hilflosigkeit eine unheilvolle Allianz eingegangen sind.
  • Darauf antwortet Jesus mit einer unbedingten Hinwendung, die selbst im Evangelium aus dem Rahmen fällt. Denn sonst lässt auch Jesus keinen Zweifel daran, dass Umkehr die Bedingung von Heilung ist. Gott überwältigt den Sünder nicht mit seiner Vergebung, sondern fordert ihn auf, sein Leben zu ändern. Bedingungslos verkündet Jesus Gottes Liebe nur, insofern diese Umkehr jederzeit möglich ist. Es gibt keine Schuld, aus der uns Gott nicht entlasten könnte.
  • Das Evangelium von der Heilung des Gelähmten aber erweitert unseren Blick auf die Not eines Menschen, dem selbst die Kraft zur allerersten Entscheidung genommen ist. Die "Wendemöglichkeit", die Gott am Ende der Sackgasse geschaffen hat ("Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium!") kann dieser Gelähmte nicht mehr sehen. Deswegen geht Jesus hier einen Schritt weiter. Wo Umkehr möglich ist, steht diese am Anfang der Entdeckung des Evangeliums. Aber wo selbst diese verschlossen scheint, will Gott die Fesseln lösen, die Sperren aufheben, Wege öffnen: Mein geliebtes Kind, nichts kann dich von meiner Liebe trennen. Bedingungslos.