Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt zum 2. Fastensonntag Lesejahr B 2012 (Römerbrief)

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4. März 2012 - Kleiner Michel (St. Ansgar), Hamburg

1. Im Streit von Anklage und Gegenangeklage

  • Vor Gericht finden die großen Dramen statt. Deswegen finden sich Gerichtsszenen in Erzählungen und Filmen. Das Gericht ist ein Ort, an dem Positionen auf einander treffen und Urteile gesprochen werden. Die Gerichtsverhandlung ist die Projektionsfläche für das Drama unseres Lebens, weswegen nicht nur Telenovelas gerne dieses Bild verwenden, sondern schon weit davor die Bibel, wie etwa der Apostel Paulus in seinem Brief an die Römer: "Wer kann die Auserwählten Gottes anklagen? ... Wer kann sie verurteilen?"
  • Anklage und Urteil für unser eigenes Leben kennen wir meist nicht aus Gerichtsverhandlungen, sondern aus dem Alltag. Wir selbst sind Ankläger und Richter, wir selbst erleben, dass wir von anderen angeklagt und gerichtet werden. Häufig, dürfte man sagen, fühlen wir uns im Recht in unserem Urteil über andere und zu Unrecht von anderen angeklagt. Manches schmerzliche Mal aber müssen wir das Recht der Anklage eingestehen, dass wir doch nicht die guten, liebevollen und liebenswerten Menschen sind, die wir so gerne sein wollen. Manches Mal sind wir uns sogar selbst in unserem Gewissen der Ankläger und der Richter in einem - bei zögerlicher Verteidigung.
  • Nie aber tut die Anklage so weh, wie wenn sie unversehens hervorbricht: Wenn im Streit zwei Menschen, die sich lieben, sich all das an den Kopf werfen, was sie bislang aus Rücksichtnahme verschwiegen haben. Wenn in der Explosion eines Streites in Vorwurf und Gegenvorwurf die Kaskaden der Vorhaltungen kein Ende zu nehmen scheinen, dann rührt der Schmerz daher, dass diese Anklagen von einem geliebten Menschen kommen, von dem wir doch dachten, dass wir vor ihm oder ihr gut dastehen und deswegen geliebt werden. 'Das wollte ich dir schon immer sagen....', kann so eine Anklage anfangen und in einem vernichtenden Urteil enden.

2. Gott an der Seite der Angeklagten

  • Solcher Streit von Anklage und Gegenanklage führt zu nichts, als zu Erschöpfung oder gar Trennung. Deswegen geht Gott einen anderen Weg. Er lässt den Angeklagten mit seiner Schuld nicht allein. Er lässt die Anklage aber auch nicht im Verschweigen unterschwellig weiterwirken. Vielmehr stellt Gott sich auf die Seite derer, die angeklagt sind. Sei es die Anklage durch andere Menschen, sei es die Anklage durch unser Gewissen, immer stehen wir damit auch vor Gott - und Gott hat sich entschieden, sich auf die Seite des Menschen zu stellen. "Wer kann die Auserwählten Gottes anklagen? Gott ist es, der gerecht macht."
  • Das englische Wort für "gerecht machen", Rechtfertigung also, heißt "acquit". Das "quit - zu Ende bringen, abbrechen", das darin steckt, beschreibt war hier geschieht. Der Teufelskreis von Anklage und Gegenanklage wird durchbrochen. Gott, der einzige, vor dem wir letztlich als Beklagte stehen könnten, stellt sich auf unsere Seite.
    "Ist Gott für uns, wer ist dann gegen uns?", lautet die rhetorische Frage des Paulus. Keiner! Gott selbst ist Mensch geworden, um auf der Seite der Menschen zu sein. "Wer kann sie verurteilen", wenn Gott selbst sich unter die Verbrecher rechnen ließ? Welches Urteil kann uns vernichten, wenn der zum Kreuz Verurteilte zu Leben erweckt wurde? "Christus Jesus, der gestorben ist, mehr noch: der auferweckt worden ist, sitzt zur Rechten Gottes und tritt für uns ein."
  • "Gott hat seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns alle hingegeben." Dieses Urbekenntnis der Christen wird auf diese Weise verständlich. Gottes Sohn ist Gott selbst; im Sohn hält Gott selbst nicht fest daran, in seinen Geboten 'Recht zu haben'. Vielmehr will er trotz all der berechtigten Klage über das Unrecht der Menschen einen Weg öffnen, aus der Schuld befreit zu werden. [Abraham noch wollte sein eigenes Kind opfern; Gott greift ein, und weist ihm den Weg zu einem symbolischen Opfer. In der Fülle der Zeit aber hat er "seinen eigenen Sohn nicht verschont". Uns mag dieses Bild der Bibel fremd vorkommen; der Sinn des Bildes aber ist klar. Gott ist für uns.]

3. Die Sünde nicht verleugnen, sondern verwandeln lassen

  • Eines muss dabei aber gesagt werden: Die Gewissheit des Glaubenden, dass Gott auf unserer Seite ist, eignet nicht zur Selbstgerechtigkeit. Die Gewissheit des Glaubenden steht im völligen Gegensatz zu der Selbstgewissheit, die in dem Wahlspruch des preußischen Königshauses zum Ausdruck kam: "Gott mit uns" (auf hebräisch "Immanuel" - Jes 7,14). Der Spruch stand noch im Zweiten Weltkrieg auf den Gürtelschnallen der Soldaten.
  • Das christliche Bekenntnis rückt im Gegensatz dazu nicht gegen andere aus, sondern bekennt sich selbst schuldig: Gerade in unserer Schwäche und Schuld ist Gott mit uns. Nicht wo wir uns selbst ermächtigen, sondern dort, wo wir die Kraft finden, auch unsere Schuld einzugestehen, hat der Zuspruch seinen Ort: Die Anklage führt nicht zur Vernichtung des anderen, sondern gerade erst zu seiner Rechtsprechung.
  • Das Evangelium von der Verklärung am heutigen zweiten Fastensonntag hat uns einen Blick auf die Herrlichkeit werfen lassen, die uns in Christus verheißen ist ("... er wurde vor ihren Augen verwandelt"). Christus selbst aber verbietet seinen Jüngern, darüber zu sprechen, bevor er nicht den Weg des Kreuzes gegangen ist und als Verbrecher hingerichtet wurde. Gott will das Kreuz tragen, um ganz "Gott für uns" zu sein: An der Seite derer, deren Leben immer wieder von Streit und Anklage gekennzeichnet ist. Indem er uns freispricht, gibt er uns die Möglichkeit, all das vor das Kreuz zu tragen, worin wir wirklich und tatsächlich als Menschheit vor Gott schuldig geworden sind, damit wir so auch wirklich und tatsächlich zum Leben auferstehen. Amen.