Predigt (Lukas)
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5. Dezember 2021 - Schlosskirche Bonn
1. Regierung
- Wussten Sie, dass "Lysanias Landesfürst von Abilene" war, als Johannes der Täufer und Jesus ihr öffentliches Wirken begann? Ich eher nicht. Es ist auch nicht so wichtig.
Doch es fällt auf, dass in den Evangelien Geburt und Auftreten Jesu von solchen scheinbar überflüssigen Angaben begleitet sind. Die Bibelwissenschaft – Exegese des Neuen Testamentes heißt das universitäre Fach – kann erklären, welche historischen und symbolischen Bezüge mit der Nennung dieser Namen verbunden sind. Mir scheint aber viel wichtiger, was das Hören solcher Angaben bei uns selbst bewirkt: Was wird dadurch wachgerufen, wenn ich so eine Liste, wie wir sie eben aus dem Lukasevangelium gehört haben, nachklingen lasse. In Zeiten, in denen vieles, gerade auch unser Verhältnis zu Politik und politischen Entscheidungen zur Pandemie emotional sind, ist es wichtig, eine innere Aufmerksamkeit für die Eigenen Reaktionen zu gewinnen.
- "Es war im fünfzehnten Jahr der Regierung." (EÜ). Ein Jahr weniger, als die Jahre unserer scheidenden Kanzlerin. Aber was bedeutet "Regierung" für mich: In der Leitung eines Kollegs mit einer großen Schule bin ich selbst so etwas wie "Regierung" für andere, Eltern haben Verantwortung für ihre Kinder, das ist alles im Nahbereich, mit Erfahrung und Beziehung verbunden. Aber die Fürsten und Kaiser, die das Evangelium aufzählt, werden für die Leute mindestens damals so anonym und zugleich doch real gewesen sein, wie uns die Regierung heute. Wir meinen durch Medien etwas über Merkel, Scholz, über unser Parlament und gar über ferne Präsidenten und Tyrannen etwas zu wissen. Wir erleben die Folgen ihrer Entscheidungen. Daraus bildet sich, was "Regierung" für uns bedeuten.
- Wie diffus das ist, merke ich, wenn ich einfach einige mögliche Adjektive durchgehe: Was ist mein "Landesfürst von Abilene" und mein "Kaiser Tiberius" – wie erlebe ich Herrschaft und Regierung: Ist sie einfach nur anonym, trotz aller Namen und Bilder? Anonym und unbegreiflich? Oder: Ist das, was ich erfahre, vertrauenerweckend oder verunsichernd? Also: Gibt es meinem Lebensgefühl zusätzliche Sicherheit, weil ich darauf vertraue, gut regiert zu werden? Oder fügt der Blick auf die Regierung meiner persönlichen oder wirtschaftlichen Unsicherheit noch weitere Verunsicherung hinzu? – Oder: Geben mir die Regierenden das Gefühl dazuzugehören, oder fühle ich mich schleichend fremd und ausgegrenzt?
2. Anderorte
- "Da erging das Wort Gottes in der Wüste." Luther übersetzt aus dem Griechischen wörtlicher "Da geschah das Wort Gottes in der Wüste." Direkt auf die Auflistung der Regierenden in den Städten folgt der Szenenwechsel. Das ist nicht ein Einfaches 'von A nach B'. Vielmehr geht die Szene aus dem durchstrukturierten, bevölkerten Sozialraum der Stadt mit all ihrer Infrastruktur und Absicherung, all ihrer Bedrängtheit und dem Bedrängenden in die Wüste, einem eigentlich lebensfeindlichen Ort.
- Die Wüste ist der andere Ort, ein Anderort. Nachdem die erste Betrachtung war, was es für uns bedeutet, so oder so regiert zu werden, ist die zweite Betrachtung der Weg heraus aus dieser Ordnung.
Das ist keineswegs nur bei denen ein großer Schritt, die in der Stadt ein sicheres, zufriedenes Leben führen und mit 'ihrem Kaiser Tiberius' einverstanden sind, weil er das eigene unbehelligte Wohlleben garantiert. Vielmehr wird das gerade für diejenigen unter uns zur Herausforderung, die Regierung ganz anders erfahren und erleben – wenn die Regierenden – in ihrer Sicht – alles ganz falsch machen, in der eigenen Perspektive die Freiheit einschränken und eine Tyrannei errichten.
Das ist der Augenblick, in dem nach der Bibel Gott sein Volk in die Wüste führt. Das ist der Kern des Alten Testaments: Gott befreit aus der Sklaverei in Ägypten, indem er Israel gegen die Streitkräfte des Pharao herausführt – heraus aus den erniedrigenden und doch trotz aller Bedrückung einen Rahmen gebenden geordneten Welt des Ägyptischen Reiches in die Wüste. Aus der Sklaverei – wo es zu essen gab – in die Freiheit in der Wüste mit all ihrer Unsicherheit. (Jesus wird am Ende seines Lebens – im Abendmahl – sich selbst als "die Speise" interpretieren, in der das Bundesmahl in der Wüste erneuert wird.)
- Ohne das Wagnis der Wüste keine Freiheit. Ohne Unterbrechung kein Aufbruch. Ohne Stille keine Inspiration. Ohne Infragestellung keine neuen Antworten. Wir brauchen individuell und gemeinschaftlich "Anderorte", an denen wir zumindest für einen Augenblick der Reflexion die Stadt und Ordnung verlassen, um uns zu fragen, woraufhin wir unterwegs sind und was es ist, das uns vertrauen lässt. Jeder Richtungswechsel, der nicht nur oberflächlich ist, braucht einen solchen Weg in die Wüste.
3. Das Krumme grad
- Das Lukasevangelium nimmt ein Bild des Propheten Jesja auf. Manche mögen es aus Händels Messiah im Ohr haben: "Alle Tale macht hoch erhaben / und alle Berge und Hügel tief, / das Krumme grad, / das Rauhe macht gleich." Das Bild ist ausgesprochen vielfältig. Es spiegelt das Streben im Bundesgesetzt des Volkes Israel nach wirtschaftlicher Egalität angesichts von Verschulung und Elend. Aber ich finde darin auch ganz einfach die Einladung, gradlinig zu denken. Gerade dort, wo es darum geht, aufzubrechen, Sicherheiten aufzugeben und neu anzufangen sind wir erstaunlich in der Lage einfache Dinge kompliziert zu machen, nur um uns nicht verändern zu müssen.
- Das Leben ist kompliziert, ich weiß. Politische Entscheidungen sind noch viel komplizierter, weil ganz viele Gesichtspunkte berücksichtigt werden müssen. Gerade in der Pandemie haben wir das lernen müssen, dass mit den faktenreichen Einschätzungen der Naturwissenschaftler und Mediziner zwar eine Voraussetzung für Entscheidungen gegeben ist. Aber dann braucht es Menschen, Regierende eben, die daraus gesellschaftlich relevante Entscheidungen machen. Ich habe ein Gespräch unter Medizinern im Ohr, indem der Tenor war: wie gut, dass ich nicht die Entscheidung treffen muss! Doch in solchen Situationen ist die Fähigkeit, geradeaus zu denken und eigne Maßstäbe zu haben.
- Das, damit schließt der Abschnitt, den wir aus dem Lukasevangelium gehört haben, geschieht noch etwas Weiteres: "Alle Menschen werden das Heil Gottes schauen". Das ist einerseits eine Verheißung, die weit über dieses irdische Leben hinausgeht. Aber es meint zugleich das Geschenk, dass wir mitten in dem Unsicheren und Zweifelhaften einen Blick für das Andere bekommen, das es auch gibt. "Alle Menschen werden das Heil Gottes schauen".